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Reden ist Silber…

«Mir gefällt das Gefühl, wenn Dinge auf bisweilen verschlungenen Pfaden von A nach B gelangen und am Schluss nichts anderes übrig ist als ein zufriedener Kunde.» Es gibt Dinge, die man bereitwillig erzählt, und solche, über die man sich öffentlich eher ausschweigt. Zur ersteren Kategorie gehört die Arbeit, zur letzteren das Befinden. Die Logistikfachfrau Helen Marbot beweist, dass es nicht immer so sein muss.

(uh) Als Treffpunkt hat sie ein Restaurant in einem gesichtslosen Industriequartier vorgeschlagen, zu einer Stunde, in der uns weder die letzten Feierabendbiertrinker noch die ersten Nachtessensgäste behelligen würden. Ich bin gespannt auf diese Begegnung, die so völlig losgelöst vom Alltag stattfinden und bei der es dennoch genau darum gehen soll – um den Alltag. Sie hat mich vorgewarnt: Viel sagen werde sie nicht, höchstens Andeutungen machen. Und sie hat gefragt, ob ich mich unter diesen Umständen auf die Geschichte einlassen würde. – Die Neugier hat gesiegt.

Schliesslich ist alles nur halb so geheimnisvoll wie befürchtet. Die unkomplizierte junge Frau, die mich bereits erwartet und in den nächsten eineinhalb Stunden meine Gesprächspartnerin sein wird, entpuppt sich nämlich als äusserst kommunikationsfreudige Person. Bloss wenn es um ihren Arbeitgeber geht, um das, was sie effektiv tut, hüllt sie sich in Schweigen, und das hat seinen Grund: Helen Marbot arbeitet im Bereich Wertlogistik.

Sie ist an ihrem Arbeitsplatz verantwortlich für das Tagesgeschäft und steht einem 16-köpfigen Team vor. Das ist alles, was von ihr zu erfahren ist. Den Rest muss man sich denken; fantasieren ist erlaubt.

Überraschender Karrierestart
Ihre Offenheit in Bezug auf ihren Werdegang und darauf, wie es ihr im Berufsalltag ergeht, macht die Informationslücke hinsichtlich ihres Berufs längstens wett. Gelernt hat sie ursprünglich Drogistin. Dieser Beruf hat sie nach der Lehre eine gewisse Zeit lang kreuz und quer durch die Schweiz geführt, so lange, bis sie nicht mehr die ewig gleichen Produkte verkaufen mochte. Sie kündigte aufs Geratewohl und half so lange auf dem elterlichen Bauernhof aus, bis sie auf ein Inserat stiess, in dem eine Mitarbeiterin im Bereich Wertlogistik gesucht wurde. Das reizte sie, und sie hat die Stelle erhalten. Völlig überraschend.

Nach nur einem halben Jahr im neuen Unternehmen wurde Helen Marbot die Funktion der Schichtleiterin angeboten, das heisst, ihr Verantwortungsbereich wurde deutlich ausgedehnt. «Das war nicht einfach, denn ich war neu, ich war jung und ich war eine Frau. Klar, dass dies Argwohn erzeugte; ich musste mich erst mal beweisen.»

Erfahrung alleine reicht nicht
Sechs Jahre arbeitete Helen Marbot als Schichtleiterin im selben Unternehmen. In dieser Zeit wurde ihr bewusst, dass sie sich zwar einen beachtlichen Erfahrungsschatz erarbeitet, hingegen «auf dem Papier» herzlich wenig vorzuweisen hatte. Sie wollte sich absichern und entschloss sich, bei GS1 Schweiz die Ausbildung zur Logistikfachfrau zu absolvieren. «Logistik hat mich immer fasziniert», sagt sie und präzisiert: «Mir gefällt das Gefühl, wenn Dinge auf bisweilen verschlungenen Pfaden von A nach B gelangen und am Schluss nichts anderes übrig ist als ein zufriedener Kunde.»

Für den Lehrgang Logistikfachfrau hat sie sich entschieden, weil sie sich ein möglichst breites Wissen aneignen, ein gutes Fundament für die Zukunft le gen wollte. An dieser Stelle geraten wir ins Philosophieren. Ist dieser Blick in die Breite eine frauenspezifische Haltung? Sie ist nämlich nicht die Erste, die dieses Argument in die Waagschale wirft. Würde ein Mann in derselben Situation eine fachspezifischere Ausbildung wählen? Wir sind beide auf dem besten Weg, diesem Klischee zu erliegen, doch dann nennt sie das Beispiel eines Schulkollegen, der sich in derselben Situation gleich entschieden hat wie sie.

«Für mein Team tue ich alles. Es ist für mich eine zweite Familie.»Ins kalte Wasser
Just in der Zeit, als sie bei GS1 Schweiz jedes zweite Wochenende die Schulbank zu drücken begann, kündigte ihr Abteilungsleiter. Da sie bisher seine Stellvertretung innegehabt hatte, war es naheliegend, dass sie nachrücken würde. Erst zögerte sie, denn sie befürchtete, dass sie der doppelten Belastung nicht standhalten würde. Doch dann hat sie ja gesagt. Das war vor zwei Jahren. «Ich habe für diesen Entscheid gebüsst: Mein Privatleben litt, und vermutlich war es im Geschäft auch nicht immer einfach mit mir», sinniert sie. «Von einem Tag auf den anderen ganz ohne Führungserfahrung ein Team von 13 Personen managen zu müssen, brachte mich ab und zu an die Grenzen dessen, was ich zu leisten vermochte. Zum Glück erhielt ich von meinem Arbeitgeber Unterstützung, indem ich einige Führungsseminare besuchen durfte.»

Viel profitiert hat sie aber auch während der Ausbildung bei GS1 Schweiz, vor allem im Fach Kommunikation. «Hier wurde uns gezeigt, wie wir mit schwierigen Situationen umzugehen haben; hier habe ich gelernt, die Dinge auf der sachlichen Ebene zu betrachten und nicht alles gleich persönlich zu nehmen.»

Zur Abschlussprüfung als Logistikfachfrau ging sie mit Herzklopfen. Als sich herausstellte, dass sie das zweitbeste Resultat ihres Lehrgangs erzielt hatte, war sie völlig überrascht. Und eigentlich sehr zufrieden. Aber eben, nur eigentlich. Sie hat ganz knapp die Auszeichnung für die beste Prüfung verpasst. «Die Uhr zu erhalten, wäre das Tüpfelchen auf dem i gewesen.» Man hat das Gefühl, dass sie dies heute immer noch ein bisschen wurmt, und es tritt eine Eigenschaft von Helen Marbot zutage, die sie bisher nicht explizit erwähnt hat.

Fürs Team durchs Feuer
Verpasste Auszeichnung hin oder her: «Aus der Zeit der Ausbildung ging ich gestärkt hervor. Zwar konnte ich nicht alles, was ich gelernt habe, eins zu eins umsetzen, weil mein Arbeitgeber kein Logistikunternehmen im herkömmlichen Sinn ist. Nebst der Kommunikation habe ich vor allem in den Bereichen Lagertechnik und Kostenrechnungen direkt profitiert.» Auch in Sachen Präsentationstechnik hat sie dazugelernt. «Ich weiss jetzt, was ich wie vorlegen muss, damit ich mit meinem Anliegen durchkomme.»

Noch wichtiger scheint Helen Marbot aber die Entwicklung auf persönlicher Ebene, die sie seit ihrer Ausbildung durchlaufen hat: «Ich bin ehrlicher, direkter geworden. Ich sage, was mich stört, ich hinterfrage Gegebenheiten und kann die Dinge aus genügend Distanz betrachten.» Es ist ihr ein grosses Anliegen, mit ihrer Tätigkeit stets das Optimum für ihre Mitarbeitenden herauszuholen. «Für mein Team tue ich alles. Es ist für mich eine zweite Familie. »

Trotz ihrer Erfahrung und der soliden Grundbildung kann es vorkommen, dass der Alltag Helen Marbot hart an die Leistungsgrenze bringt. So etwa im letzten Jahr, als das Team nicht vollzählig war, etliche Neuerungen eingeführt wurden und sie deshalb stark von der Ausbildung ihrer Mitarbeitenden absorbiert war. «Plötzlich stellte ich fest, dass ich mir, um den Alltag zu meistern, genau jenen Tunnelblick angeeignet hatte, den ich eigentlich nie wollte. Dieses Bewusstwerden war wichtig. Ich konnte rechtzeitig Gegensteuer geben, meine ganzheitliche Sichtweise zurückgewinnen und das Bestmögliche aus meinen Ressourcen herausholen. Kürzlich habe ich tatsächlich meinen GS1 Ordner aus dem Gestell geholt und etwas nachgeschlagen », erzählt sie lachend.

Helen Marbot ist 30 Jahre jung – da drängt sich die Frage nach der Zukunft auf, nach Wünschen und Träumen. Sie sei noch nicht entschlossen, sagt sie, tendiere aber dazu, allenfalls doch noch den Blick in die Tiefe zu wagen, sprich: sich auf einen Teilbereich der Logistik zu spezialisieren; die Ausbildung zur Logistikleiterin steht daher nicht im Vordergrund. Träume hat sie ebenfalls, auch jenseits der Logistik. «Das werden vermutlich Träume bleiben, und das ist gut so. Keine Träume mehr zu haben, wäre schlimm.» – Wie viel man doch über einen Menschen erfährt, wenn man von und nicht bloss über die Arbeit spricht.

Ursula Homberger

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