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ePatients

Prof. Dr. Andréa Belliger, Schulleitung der PHZ Luzern(bs) Eine neue Patientengeneration fordert mehr Kommunikation, Partizipation und Transparenz. GS1 network im Gespräch mit Prof. Dr. Andréa Belliger über ePatients, Web 2.0 und Patientenkommunikation.

 

GS1 network: Frau Belliger, was genau sind «ePatients»?
Andréa Belliger: Bei den ePatients handelt es sich um eine neue, vernetzte Patientengeneration, die sich selber diesen Namen gegeben hat. ePatients kommunizieren und informieren sich auf vielfältige Weise. Sie lesen und schreiben in Blogs, vernetzen sich, kommunizieren mit anderen Patienten und Ärzten in Portalen und virtuellen Sprechstunden, tauschen Gesundheitsdaten aus und beeinflussen damit Diagnose, Arztwahl, Medikation und Therapie. Diese ePatients sind zu einer neuen Einflussgrösse auf dem Gesundheitsmarkt geworden und fordern vom Gesundheitswesen Kommunikation, Partizipation und Transparenz. Ihr Credo lautet: «Let Patients help». Dabei steht das kleine «e» vor Patients nicht so sehr als Abkürzung für «elektronisch », sondern als Bezeichnung für «empowered» – aktiv, befähigt, kompetent. ePatients sind nicht nur in der Altersklasse der 15- bis 30-Jährigen, also unter jenen Personen, die mit dem Internet aufgewachsen sind, zu finden. Zunehmend gesellen sich die «Silver Surfers» dazu, Menschen ab 55.

Wie und warum ist diese Bewegung entstanden?
Die Bewegung der ePatients hat ihre geistige Heimat in der globalen Veränderung unseres Kommunikationsverhaltens, die unter der Bezeichnung «Web 2.0» seit etwa 2005 bekannt ist und mit den Veränderungen des Internets zusammenhängt. Die Nutzung des Internets hat sich in den letzten fünf Jahren tatsächlich stark verändert. Das Web hat sich von einem Medium der unidirektionalen Informationsverteilung hin zu einer multidirektionalen Kommunikationsplattform entwickelt. Web-2.0-Anwendungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Menschen miteinander verbinden und ihnen die Möglichkeit geben, selber digitale Inhalte zu erstellen und auszutauschen. Wichtige Tendenzen des Web 2.0 sind: die Bedeutung sozialer Netzwerke, die Entstehung vernetzter Organisationen, das Auslösen grosser sozialer Veränderungen durch kleine Ursachen, die Weisheit der Vielen, die Transformation der Beziehung zwischen Produzent und Konsument und die Einbindung von Konsumenten in Unternehmen und Organisationen. Alle diese Tendenzen haben Auswirkungen auf das Gesundheitssystem.

Inwiefern? Und in welchem Ausmass?
Das Web 2.0 ist zum Inbegriff eines tief greifenden Wandels des Kommunikationsverhaltens in fast allen gesellschaftlichen Bereichen geworden. Im Zentrum des Web 2.0 steht nicht so sehr eine technologische Innovation, sondern vielmehr ein verändertes Kommunikationsverhalten unter Nutzerinnen und Nutzern des Internets. Es unterstützt und fördert neue soziale Praktiken, die Bildung von wirtschaftlich und politisch wirksamen Öffentlichkeiten und neue Formen von Zusammenarbeit und Identitätsbildung. Web-2.0-Medien sind nicht wie Zeitungen und Fernsehsendungen etwas «ausserhalb» des Menschen, vielmehr ist im Kontext des Web 2.0 der Mensch selbst das Medium. Aus diesem Grund werden Begriffe wie «Social Software» und «Social Media» als Synonyme für das Web 2.0 benutzt. Damit wird der interaktive, kollaborative und öffentlichkeitsbildende Charakter dieser Weiterentwicklung des Internets betont.

Was unterscheidet ePatients von  «alten», klassischen Patienten «ohne e»?
ePatients unterscheiden sich in ihrer Haltung, ihrer Kommunikation, ihrem Rollenverständnis und den Forderungen ans Gesundheitssystem von  «klassischen» Patientinnen und Patienten. Sie sind zum Beispiel nicht nur digital informiert, sondern digital vernetzt. Dass Gesundheitsinformationen via Internet erschlossen sind, ist keine neue Sache. Rund 80 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer geben an, im Internet nach Gesundheitsinformationen zu suchen. Auch die Angebote zur primären Prävention kommen ohne Internet nicht mehr aus (z. B. Kooperation von Nike und Apple iPod; eBalance.ch; Coop Online-Coach).

Online Health Communities, auf denen sich Patienten organisieren, austauschen und moralisch unterstützen (Pa-tientsLikeMe.com, DailyStrength.org, CureTogether), weisen enorme Wachstumszahlen auf. Einige Institutionen im Gesundheitswesen haben diese Tendenz erkannt und kommunizieren via Social Media mit den Patienten und deren Angehörigen. Die amerikanische Mayo Clinic tut dies sehr erfolgreich via Blog, Podcast, Diskussionsforen, Videokanal auf iTunes und YouTube, Facebook und Twitter (siehe z. B. podcasts. mayoclinic.org, newsblog.mayoclinic. org, sharing.mayoclinic.org).

Was bedeutet der praktisch uneingeschränkte Zugang zu Informationen im Internet für das Verhältnis des Patienten zum Arzt?
Die Zugänglichkeit von qualitativ hochwertiger Information verändert die Rollen im Gesundheitswesen. Das Wissen liegt nicht mehr einseitig bei den Healthcare Professionals. Das verändert das Verhältnis und macht die Grenzen zwischen Experten und Laien durchlässig. Patientinnen und Patienten sehen sich zunehmend weniger als passive Empfänger von Gesundheitsdienstleistungen, sondern als aktive und selbstbestimmte Kommunikationspartner. Diese Art der Partizipation geht weit über das persönliche Gesundheitsmanagement hinaus.

Sind ePatients ohne Internet überhaupt denkbar?
Nein, ePatients sind ohne Internet und soziale Netzwerke nicht denkbar. Vielmehr verkörpern die ePatients selber die zentralen Inhalte dieses neuen 2.0-Paradigmas: die Forderung nach Kommunikation, Partizipation und Transparenz bei der Erstellung und Nutzung von Informations- und Kommunikationsressourcen aller Art. Es sind gerade diese neuen Möglich-keiten der Vernetzung, der Kommunikation und des kooperativen Handelns, welche die «sozialen Medien» mit sich bringen, die Patientinnen und Patienten, aber auch ihr Umfeld zum sozialen Handeln in einem bis anhin nie dagewesenen Ausmass ermächtigen und befähigen.

Welche Zukunft hat die ePatients- Bewegung?
Was wir im Moment mit der ePatients- Bewegung erleben, lässt sich mit einem typischen Web-2.0-Phänomen erklären, dem «Tipping Point», jenem entscheidenden Punkt, an dem eine Information sich wie eine soziale Epidemie so weit ausbreitet, dass sie gesellschaftlich die kritische Masse erreicht. Um eine solche «virale Informationsepidemie » auszulösen, sind drei Personentypen nötig: Es braucht Personen, die in Bezug auf eine bestimmte Information als Sachverständige und damit als vertrauenswürdig gelten. Es braucht zudem Personen, die als Vermittler fungieren und die Information an viele andere weitergeben. Schliesslich braucht es Personen, die als charismatische Führungspersönlichkeiten andere von der Bedeutung der Information überzeugen können.

Was klein beginnt, erreicht – vorausgesetzt, die Umstände erlauben es – den «Tipping Point», die «kritische Masse». Dies ist gegenwärtig für die ePatients- Bewegung der Fall. 2011 scheint so etwas wie «The Year of the ePatient Movement» zu sein.

An der GS1 Tagung «Healthcare under Construction» in Luzern sprachen Sie davon, dass sich die Patientenlogistik zur Patientenkommunikation entwickeln müsse. Was meinen Sie damit?
An dieser Tagung stand das Thema Prozess- und Supply Chain Management im Zentrum. Ich wurde eingeladen, die Sicht der Kunden und Patienten einzubringen. Patienten haben die Erwartung, dass das Supply Chain Management im Gesundheitswesen wie in andern Bereichen, etwa dem Detailhandel, schlicht und einfach funktioniert. Sie fordern, dass aber auch die «Kommunikationslogistik» funktioniert, dass es beispielsweise in einem Spital auch Überlegungen unddefinierte Prozesse dazu gibt, wie mit Patienten und deren sozialem Umfeld und Netzwerk transparent, gleichberechtigt, bereichs- und akteursübergreifend kommuniziert wird. Diesbedeutet, dass gleichwertig zum Prozess- und Supply Chain Management, das die effiziente Handhabung von Waren in einem System zum Ziel hat, die Patientenkommunikation im Sinne einer «Kommunikationslogistik» implementiert werden muss.

Sie sagten ferner, dass Patienten nicht Waren in einem System, sondern Akteure in einem Netzwerk seien. Was bedeutet diese Aussage für einen prozessorientierten Fokus auf die Supply Chain: Werden Menschen wichtiger als Prozesse?
Prozess- und Supply Chain Management basieren auf der Grundannahme, dass wir es mit geschlossenen Systemen bzw. Lieferketten zu tun haben. Das System wählt auf möglichst effiziente Art und Weise die nötigen Elemente dieser Lieferkette und setzt sie zueinander in eine derartige Beziehung, dass der Zweck dieses Systems – zum Beispiel das richtige Medikamentbeim richtigen Patienten zur richtigen Zeit – gewährleistet ist. Das mag für Waren wie Spitalbetten und Medikamente funktionieren. Am Begriff «Patientenlogistik» störe ich mich aber, er scheint mir zudem nicht zutreffend zu sein. Ich würde an seine Stelle, wie vorher gesagt, lieber den Begriff «Patientenkommunikation » setzen. Kommunikation deutet auf ein grundsätzlich anderes Verständnis hin. Wir haben es mit gleichberechtigten Kommunikationspartnern zu tun, mit Akteuren in einem Netzwerk, das nicht an den Pforten des Spitals endet. Akteure haben eigene Interessen, beeinflussen sich gegenseitig und verbinden sich mit andern Akteuren, sodass die Grenzen des Netzwerks nie klar zu bestimmen sind. Dabei bleibt der Akteursbegriff nicht auf Menschen beschränkt, gerade in einem Spital sind nichtmenschliche, zum Beispiel technische Akteure von grosser Bedeutung. In diesem Sinne habe ich davon gesprochen, dass Patientinnen und Patienten nicht Waren in einem System, sondern Akteure in einem Netzwerk sind.

Die Fragen stellte Bernhard Stricker.

 

Prof. Dr. Andréa Belliger
ist Co-Leiterin des Instituts für Kommunikation & Führung, leitet die Studiengänge eHealth, eLearning, eGovernment und ist Mitglied der Schulleitung der PHZ Luzern. Sie publizierte Bücher und diverse Artikel zu den Themen Wissensmanagement, Social Media und Netzwerkgesellschaft. Als Referentin und Beraterin ist sie in Wirtschaftsunternehmen, Verwaltungen und öffentlichen Organisationen tätig. Dr. Andréa Belliger (geb. 1970) studierte Theologie, Philosophie und Geschichte in Luzern, Strassburg und Athen.

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