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Verkehrspolitische Schnittstellen Schweiz–Europa

Verkehrspolitische Schnittstellen Schweiz–EuropaDie Schweiz ist geografisches Herzstück von Europa, aber nicht Mitglied der Europäischen Union (EU), was vor allem in der Verkehrspolitik einen erhöhten Regelungsbedarf bedeutet. Wie gehen die beiden Seiten damit um? Wie werden Grenzen und Schnittstellen so überwunden, dass der grenzüberschreitende Verkehr trotzdem reibungslos funktioniert? Eine Bestandesaufnahme.

(bs) Der öffentliche Verkehr (öV) in der Schweiz ist ein Erfolgsmodell, das Angebot ist europaweit einmalig. Die Nachfrage nach Bahnangeboten ist in den letzten Jahren zudem viel stärker gestiegen als erwartet.

Die Schweizer Bevölkerung will und schätzt den öV. Die Kehrseite: Das Schienennetz ist mittlerweile stark belastet. Das erhöht die Kosten im Unterhalt und die Anfälligkeit für Störungen. Bilanz: Den Steuergeldern steht eine sehr gute Leistung gegenüber. Und es besteht sogar ein Bedarf nach mehr öV. Zudem ist die Finanzierung des öffentlichen Verkehrs klar geregelt.

Die Mitfinanzierung beim Unterhalt der Infrastruktur, beim Regionalund Güterverkehr ist über den ordentlichen Bundeshaushalt abgedeckt. Die Finanzierung des Infrastrukturausbaus läuft über Fonds – den FinöVFonds für die NEAT oder die Lärmsanierung, den Infrastrukturfonds für Projekte in den Agglomerationen. Die Fonds mit ihren zweckgebundenen Mitteln laufen ausserhalb des ordentlichen Haushalts. Das macht die Sache planbar und verlässlich. Die Schweiz hat sich im Landverkehrsabkommen mit der EU zudem verpflichtet, EURecht in Schweizer Recht zu überführen (in der Verkehrspolitik). Dazu gehören auch die sogenannten Bahnpakete der EU (siehe Kasten). Die Schweiz ist im Moment erst dabei, die EUEisenbahnpakete 1 und 2 in Schweizer Recht zu überführen. Die Vernehmlassung zur entsprechenden Bahnreform 2 ging Mitte Oktober 2009 zu Ende. Über deren Ergebnisse dürfte der Bundesrat laut Gregor Saladin, Sprecher des Bundesamtes für Verkehr (BAV), noch in der ersten Hälfte 2010 beraten.

Viele Gemeinsamkeiten mit Europa
Rechtlich betrachtet sind die Verkehrspolitik der Schweiz und jene der EU weitgehend deckungsgleich. Bindeglied und rechtliche Grundlage bildet das bilaterale Landverkehrsabkommen vom 21. Juni 1999. Richtungsweisend dafür war der am 2. Mai 1992 vereinbarte Transitvertrag. Das spätere Abkommen löste diesen ab und führte auch eine andere «Mechanik» ein. An die Stelle der 28TonnenGewichtslimite und eines sogenannten Überlaufmodells im Falle von Bahnkapazitätsengpässen trat der schrittweise Ausbau der Gewichtsbeschränkung auf 40 Tonnen. Im Gegenzug handelte sich die Schweiz die ebenfalls schrittweise Anhebung der LSVA und die Erhebung einer Alpentransitabgabe im Falle eines übergrossen Ansturms von Lkws ein. Mit gleichem Datum wurde auch ein Luftverkehrsabkommen vereinbart. Dieses basiert ganz auf der Nichtdiskriminierung und dem Austausch von Verkehrsrechten, der Herstellung des gemeinsamen Luftraums und einem gemischten Ausschuss, der rechtsverbindliche Beschlüsse treffen kann. Für sich allein sind die Abkommen über den Landverkehr und die Luftfahrt nicht «lebensfähig», da ihre Wirksamkeit von jener der weiteren bilateralen Abkommen abhängt. Alle diese Vereinbarungen bilden rechtlich ein Ganzes.

Erstes Paket
• Zugang zum Güterverkehr
• Unabhängige Infrastrukturbetreiber
• Rechnerische Trennung von Personenund Güterverkehr
• Nationale Regulierungsstelle
• Vereinheitlichung der Zulassung der EVU
• Trassenmanagement / Diskriminierungsverbot

Zweites Paket
• Sicherheit im Eisenbahnverkehr, Sicherheitsbescheinigung
• Interoperabilität
• Komplette Öffnung im Güterverkehr
• Eisenbahnagentur

Drittes Paket
• Öffentliche Personenverkehrsdienste / öffentliche Ausschreibung
• Fahrgastrechte
• Öffnung im Personenverkehr ab 2010, mit Ausnahmen bis zu 15 Jahren

Viertes Paket
• Interoperabilität, Verfahren für die Zulassung von Schienenfahrzeugen
• Revision Sicherheitslinie
• Änderung bei der Eisenbahnagentur

Beispiel Landverkehrsabkommen
Das Landverkehrsabkommen macht die Gemeinsamkeiten – aber auch die Unterschiede – zwischen den beiden Vertragsparteien deutlich:
• Die primäre Kompetenz und Verantwortung für das Politikfeld Verkehr ist auf gleicher Ebene angesiedelt: in der Schweiz beim Bund, in der EU bei den Gemeinschaftsorganen. Bei beiden handelt es sich um umfassende, jedoch nicht ausschliessliche konkurrierende Kompetenzen. Das heisst: die Kantone und die Mitgliedstaaten können in diesem Bereich gesetzlich tätig werden, solange nicht der Bund oder die Gemeinschaft selber Erlasse beschliessen. Die den Kantonen zugänglichen Gebiete sind beschränkter, liegen doch der Bahnverkehr und die Autobahnen ganz im Verantwortungsbereich des Bundes. Damit befinden sich die Partner bei ihren Begegnungen auf derselben Ebene und die Kompetenz für internationale Vertragsabschlüsse ist gegeben. Allerdings verdeckt diese rein formale Kompetenzbetrachtung den Gesetzgebungsprozess und seine je eigenen Prozessschritte.
• Beide Parteien haben ein Interesse an gemeinsamen Einrichtungen zur Begleitung und Ausführung der bilateralen Verträge. Im Zentrum steht der gemeinsame Landverkehrsausschuss, in welchem die Verkehrsbeobachtung und die Gebührenregelung zur Diskussion stehen.
• Auch gemessen an den Zielen ergibt sich eine weitere Deckungsgleichheit. Die EUZiele lauten schlicht: unverfälschter Wettbewerb und nachhaltige Mobilität. Im Budget für den Haushalt 2009 werden die Zielsetzungen etwas konkreter formuliert: Bereitstellung wettbewerbsfähiger Systeme, Entkopplung der Mobilität von ihren negativen Nebenwirkungen, Schaffung dauerhafter Voraussetzungen für Verkehrsdienstleistungen in der EU, Verbesserung der Sicherheit und des Mindestarbeitsstandards, sichere und nachhaltige internationale Wettbewerbsfähigkeit und Entwicklung innovativer Lösungen. Demgegenüber führt die Bundesverfassung keine eigentlichen Ziele für den Verkehr ins Feld, bestimmt in Art. 95, Abs. 2 aber, dass der Bund für einen einheitlichen schweizerischen Wirtschaftsraum zu sorgen habe, in welchem die Wirtschaftsfreiheit grundlegend sei (Art. 94, Abs. 1). Desgleichen äussert sich die Bundesverfassung auch nur allgemein über den Umweltschutz (Art. 74) und verzichtet auf besondere Vorgaben für den Verkehr. Im Übrigen übernimmt die Verfassung weitgehend die alten, auf die Verkehrsträger bezogenen Bestimmungen (Art. 81ff.). Dennoch hat die schweizerische Verkehrspolitik mit ihrer «Verlagerungsstrategie» konkrete Ziele: die Reduktion des transalpinen Lastwagenverkehrs auf 650 000 Fahrten pro Jahr.

Marktchancen
Für die Wirtschaft entscheidend sind für beide Seiten die sich aus den Abkommen ergebenden Marktchancen für die Verkehrsunternehmen. Die schweizerischen Strassengüterverkehrsunternehmen können ungehindert den EUMarkt bearbeiten, derweil die Ausländer in der Schweiz die Nachtund Sonntagsfahrverbote zu beachten haben. Hervorzuheben ist, dass der Anteil an ausländischen Fahrzeugen im Transport in und aus der Schweiz über die Jahre hinweg mit 22 Prozent konstant geblieben ist. Der Bahnverkehr zeigt im Güterverkehr ebenfalls, dass ausländische Märkte bearbeitet werden können, ohne mit Behinderungen rechnen zu müssen. Entscheidend wird jedoch hier die Marktstruktur sein, ob es gelingt, aus der Schweiz heraus ein CargoGeschäft zu betreiben, ohne ins Schlepptau der zwei grossen Unternehmen in Deutschland und Frankreich zu geraten. Möglicherweise ist jedoch der Personenverkehr für ausländische Anbieter in der Schweiz attraktiver. Im internationalen Geschäft verfügt kein schweizerischer Anbieter über genügend eigenes Rollmaterial vom Stil TGV oder ICE und damit über genügend Reichweite.

Die EU – stark in der Regulierung, schwach bei der Finanzierung
Verkehrspolitik ist zu einem guten Teil auch Finanzpolitik. Die Datenlage zeigt, dass die EU auch im Verkehr – wie bei den meisten Politikfeldern mit Ausnahme der Agrarpolitik – in erster Linie reguliert und nur in beschränktem Mass auch finanzielle Anreize setzen kann. Im Budget 2009 betragen die beabsichtigten Ausgaben für Energie und Verkehr lediglich 2,1 Prozent. Über alles hinweg betrachtet geben die EUBürgerinnen und Bürger deutlich weniger für den Verkehr aus als Herr und Frau Schweizer.

Fazit
Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Schweiz gut aufgestellt ist, was die Verkehrspolitik und ihre Finanzierung anbelangt, dass sie ihre Eigenheiten bisher weitgehend bewahren konnte, dass sie jedoch im Bereich Umweltschutz noch schwierige Aufgaben zu lösen hat – ebenso wie die EU. Die Marktchancen für schweizerische Anbieter sind intakt. Es zeichnen sich eher im Bahnbereich Herausforderungen sowohl im Güterals auch im Personenverkehr ab, die weniger durch das Verkehrsrecht als vielmehr durch die Marktrealitäten bestimmt sein werden. Ganz zentral ist im Hinblick auf künftige Kooperationen und Projekte vor allem aber die Erfahrung, dass sich das Landverkehrsabkommen bis dato bewährt hat. 

Bernhard Stricker

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