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«Es gibt keinen Plan B.»

Mit dem Ja zur Volksinitiative gegen Masseneinwanderung wollen die Schweizer den Zuzug von Ausländern beschränken. Das Ergebnis der Volksabstimmung setzt das Landverkehrsabkommen zwischen der EU und der Schweiz aufs Spiel. Der Wirtschaft drohen höhere Logistikkosten.

«Es gibt keinen Plan B», sagt Franz Saladin, Direktor der Handelskammer beider Basel (HKBB). Frank Furrer, Generalsekretär des Verbandes der verladenden Wirtschaft (VAP), spürt die Auswirkungen bereits «stark». Und Thomas Bögli, Mitglied der Geschäftsleitung der Standardisierungsorganisation GS1 Schweiz, ist fest davon überzeugt: «Das Worst-Case-Szenario wird nicht eintreffen.»

Ein unteilbares Ganzes
Auch Monate nach dem Volksentscheid und dem Ja zur Initiative «Gegen Masseneinwanderung» reiben sich die Schweizer die Augen. Und  die Angst vor der Guillotine-Klausel ist immer mehr spürbar. «Diese besagt, dass, wenn das Freizügigkeitsabkommen (FZA) oder ein anderes Abkommen der Bilateralen I von einer der beiden Seiten gekündigt wird, alle anderen Abkommen der Bilateralen I nach sechs Monaten hinfällig werden», bestätigt Pierre-Alain Eltschinger, der Sprecher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) mit Sitz in Bern, im Gespräch mit GS1 network. Mit dem knappen, aber dennoch eindeutigen Entscheid (50,3 Prozent Ja) haben die Schweizer das FZA am 9. Februar auf die Guillotine gelegt. Ergo stehen alle sieben   Abkommen von 1999 zur Disposition, einschliesslich des wichtigen Landverkehrsabkommens.

Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamtes für Verkehr (BAV)Dieses «schafft für die schweizerische Eisenbahnindustrie die Basis für neue Absatzmöglichkeiten in der EU», betont Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamtes für Verkehr (BAV) in Ittigen, auf Nachfrage. Es schütze zugleich die Schweizer Fuhrhalter vor ausländischer Konkurrenz und stärke den kombinierten Verkehr Strasse/Schiene. Zudem sichere das Abkommen die Verlagerungspolitik politisch ab, zählt Füglistaler auf.

Bei einer Aufkündigung des FZA (und dem damit einhergehenden Ende des Landverkehrsabkommens) wäre die Güterverkehrsverlagerungspolitik der Schweiz wohl hinfällig. Denn sie wird im Landverkehrsabkommen geregelt. Zentraler Aspekt war und ist die Anerkennung der Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe (LSVA) durch die EU, mit der die Schweiz für eine Lkw-Fahrt von Grenze zu Grenze im Mittel 325 Franken verlangen darf. Auch das Nacht- und Sonntagsfahrverbot konnte mit dem Abkommen abgesichert werden. Im Gegenzug liess die Schweiz 40-Tonnen-Lkws zu, was die Effizienz des Strassenverkehrs erhöhte. «Damit erreichte die Schweiz  eine koordinierte Politik zum Schutz des Alpenraums und die Anerkennung der vom Stimmvolk geforderten Verkehrsverlagerung durch die EU», stellt Füglistaler fest. Das Abkommen stehe in engem Zusammenhang mit der Alpeninitiative, die das Stimmvolk vor 20 Jahren gutgeheissen hat. Dasselbe Schweizer Volk sagt nun Nein zur «Masseneinwanderung» und «schiesst sich damit ins eigene Knie», wie Gerhard Handke, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes des Deutschen Gross- und Aussenhandels (BGA), drastisch formuliert.

Auswirkungen und Konsequenzen
Das Nein ist auch insofern bedenklich, als auf der Basis des Landverkehrsabkommens in der Schweiz jedes Jahr bis zu 700 000 Lastwagenfahrten durch die Alpen vermieden werden», stellt Füglistaler weiter fest. Kein anderes Land habe einen ähnlich hohen Marktanteil der Bahn im alpenquerenden Güterverkehr. Aktuell liegt er bei «gut 66 Prozent» oder 25,2 Millionen Tonnen. Zuletzt sei 2006 ein ähnlich hoher Anteil erzielt worden, erwähnt der BAV-Direktor. «Auf keiner anderen Transitstrecke in Europa konnte auch das Wachstum des Schwerverkehrs so deutlich gestoppt werden», betont das BAV. Und der vom Bund finanziell unterstützte kombinierte Verkehr (Unbegleiteter KV und Rollende Autobahn) erreichte mit 962 000 transportierten Sendungen 2013 ein Allzeithoch.

Auch dem schweizerischen Lastwagengewerbe brachte das Landverkehrsabkommen grosse Vorteile: Die Fuhrhalter erhielten Zugang zum EU-Markt sowie die Möglichkeit, zwischen EUStaaten Kabotagefahrten durchzuführen, also etwa Güter von Deutschland nach Frankreich zu transportieren. Hingegen blieb der schweizerische Markt vor der Kabotage durch ausländische Transporteure geschützt. Transporte von Zürich nach Lausanne durch einen deutschen Lkw bleiben gemäss dem Landverkehrsabkommen ausgeschlossen. Zudem profitieren die Logistikunternehmen von der Förderung des kombinierten Verkehrs im Rahmen der Verkehrsverlagerung.

Frank Furrer, Generalsekretär des Verbandes der verladenden Wirtschaft (VAP)«Der Marktzugang wurde nicht nur den Lastwagen beziehungsweise dem KV gewährt, sondern allen Transportunternehmen », ergänzt VAP-Generalsekretär Furrer. PostAuto, SBB Cargo International oder BLS würden auch im Ausland konventionellen Güterverkehr und Personenverkehr fahren, sagt Furrer, der feststellt: «Wir spüren die Auswirkungen des neuen Verfassungsartikels schon stark.»

So sei die Schweiz von einer eigenständigen Beteiligung am milliardenschweren Forschungs- und Förderpaket Shift2Rail ausgeschlossen worden. Zudem sei ein Abkommen zwischen EU/ERA und der Schweiz, mit dem Ziel einer eigenständigen Beteiligung der Schweiz an den hochbrisanten Arbeiten der Europäischen Eisenbahnagentur, kurz vor Abschluss auf Eis gelegt worden, listet Furrer weiter auf. «Hierunter leiden die Wagenhalter, die Eisenbahnen und die Zulieferindustrie. » Auch werde schnell klar, dass erhebliche Probleme auf die Schweiz zukämen, «wenn wir die Mitarbeiter in der Logistikwirtschaft nach Nationalitäten sortieren», meint Furrer.

Erste Ausnahmewünsche und Spezialregelungen für «versorgungskritische Branchen» (etwa der Bauernverband, der auf Erntehelfer aus dem Ausland angewiesen ist) machen bereits die Runde. Verbände wie Wirtschaft drängen auf eine zumindest «wirtschaftsfreundliche Umsetzung», beobachtet HKBB-Direktor Saladin.

Mehrere Szenarien sind möglich
Die Angst vor der konkreten Umsetzung des Volksentscheids vom Februar kann ihnen EDA-Sprecher Eltschinger allerdings nicht nehmen. «Der Bundesrat hat vor der Abstimmung deutlich gesagt, die Zukunft der verschiedenen Abkommen mit der EU sei ungewiss», erinnert er. «Wir befinden uns jetzt in einer Phase der Unsicherheit, auf die Bundesrat und Parlament im Vorfeld hingewiesen haben. Der Bundesrat ist bestrebt, das beste Resultat für die Schweiz zu erreichen.» Dafür hat er drei Jahre Zeit.

Doch was ist das beste Resultat für die Schweiz? Das Ergebnis vom 9. Februar so «zu drehen», dass es keinen Einfluss auf das bestehende Landverkehrsabkommen von 1999 hat? – Nein, so eine Rolle rückwärts sei nicht möglich, antwortet EDA-Sprecher Eltschinger eindeutig. «Der neue Verfassungstext verpflichtet den Bundesrat, innerhalb von drei Jahren ein neues Zulassungssystem für alle Ausländerinnen und Ausländer einzuführen», stellt er fest. In dieser Zeit sei das Freizügigkeitsabkommen (FZA) neu zu verhandeln und dem schweizerischen Zuwanderungssystem anzupassen. Bis zu einer Neuregelung oder einer eventuellen Kündigung gelte das FZA – und damit auch alle anderen bestehenden bilateralen Verträge. Aber «der Bundesrat ist verpflichtet, das Abstimmungsergebnis umzusetzen», betont Eltschinger auf Nachfrage von GS1 network.

«Das Worst-Case-Szenario wird nicht eintreffen», ist indes Thomas Bögli, Mitglied der Geschäftsleitung von GS1 Schweiz, überzeugt. Die Schweiz sei mit Europa logistisch betrachtet enorm stark vernetzt. Bei den Gesamttonnagen würden sowohl im Import wie auch im Export 90 Prozent aller  Warenströme mit Europa abgewickelt. Zudem komme der Schweiz als Transitland auch im europäischen Kontext eine wichtige Bedeutung zu. «Mit den bestehenden bilateralen Verträgen wird unter anderem im Landverkehrsabkommen ein effizienter Warenfluss sichergestellt. Falls bei diesen Abkommen massgebende Veränderungen erfolgen sollten, würden sich Nachteile für alle beteiligten Partner ergeben. Dies kann kaum im Interesse der EU sein», betont Bögli.

Derweil hat sich der Schweizerische Nutzfahrzeugverband Astag bereits mit einer Neuverhandlung des Landverkehrsabkommens befasst. Erste Massnahme: Er würde das «illusorische » Verlagerungsziel von jährlich 650 000 alpenquerenden Lkw-Fahrten bis 2018 auf eine Million Fahrten bis 2030 auf Gesetzesebene anheben.

Tim-Oliver Frische

 

 

 

 

Mögliche Auswirkungen am Beispiel des Landverkehrs- und des Luftverkehrsabkommens
Das Landverkehrsabkommen sieht anders als das Abkommen über die Freizügigkeit keinen Schutz für «erworbene Ansprüche von Einzelnen» vor (Abkommen über die Freizügigkeit, Artikel 23). Konkret würden die direkt durch das Abkommen vorgesehenen Rechte und Pflichten durch die Kündigung wegfallen. Zwar ist es so, dass viele Elemente des Abkommens (etwa LSVA, Nachtund Sonntagsfahrverbot, 40-Tonnen-Gewichtslimite) im innerschweizerischen Recht verankert sind. Dies gilt auch für die meisten durch das Abkommen übernommenen EU-Regeln, die aufgrund des Äquivalenzprinzips im innerschweizerischen Recht verankert sind (siehe Anhang 1 des Landverkehrsabkommens). Diese Regeln würden auch nach der Kündigung weiterhin existieren. Wegfallen würde jedoch die politische Absicherung der Schweizer Verlagerungspolitik und ihrer Instrumente bei der EU. Längerfristig müsste sich dann zeigen, ob die Schweiz im Alleingang diese Verlagerungspolitik halten kann.

Das Luftverkehrsabkommen ist für den Erfolg von Schweizer Unternehmen auf dem hart umkämpften Luftverkehrsmarkt von entscheidender Bedeutung. Auf der Grundlage dieses Abkommens können die schweizerischen Fluggesellschaften die von ihnen gewünschten Destinationen mit beliebig grossen Luftfahrzeugen anfliegen. Dies ermöglicht eine bessere Flottenauslastung und senkt die Kosten. Ausserdem können die Fluggesellschaften die Tarife frei gestalten. Für die Passagiere bedeutet das Abkommen tiefere Preise sowie eine grössere Auswahl bei den Flugverbindungen. Eine Kündigung des Luftverkehrsabkommens dürfte schwerwiegende Folgen für den Schweizer Luftverkehrsmarkt haben, was sich auch negativ auf die Konsumenten auswirken würde.

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