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«Standards setzen Wissen und Ressourcen voraus.»

Die jüngste Studie zu den im Spital erworbenen Infektionen und ihren manchmal tödlichen Folgen macht hellhörig: Das Thema Patientensicherheit ist hochaktuell. Erfolg verspricht eine Strategie, welche fachliche und technische Entwicklungen mit einer Sicherheitskultur verknüpft, die eine offene Kommunikation und Standards bei allen sicherheitskritischen Handlungsabläufen verlangt. GS1 network im Gespräch mit Dr. Margrit Leuthold, Geschäftsführerin der Stiftung Patientensicherheit Schweiz.

GS1 network: Die Stiftung will die Sicherheitskultur im Gesundheitssektor fördern. Wo sind denn die Risikozonen für die Patientensicherheit in Schweizer Spitälern auszumachen?
Margrit Leuthold: Die Stiftung Patientensicherheit Schweiz hat vor rund zehn Jahren eine erste Studie durchgeführt, um die Gefahrenzonen rund um die Patientensicherheit zu identifizieren. Ein besonders wichtiger «Hotspot » ist die Medikation. Wir wissen, dass dieser Bereich fehleranfällig ist, vor allem an den Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Behandlung. Das können Dosierungsfehler sein oder das versehentliche Weglassen von bisher regelmässig eingenommenen Medikamenten. Acht Prozent aller Patienten sind während eines Spitalaufenthalts von einem unerwünschten Arzneimittelereignis betroffen. Eine weitere Problemzone betrifft die während eines Spitalaufenthalts erworbenen Infektionen. Schätzungsweise 2000 Todesfälle und 70 000 Erkrankungen pro Jahr werden durch die sogenannten nosokomialen Infektionen verursacht. Hinzu kommt, dass solche Keime zunehmend resistent gegenüber Antibiotika werden. Eines unserer Pilotprogramme – die wir im Rahmen der Qualitätsstrategie des Bundes umsetzen – hat deshalb zum Ziel, die durch Blasenkatheter verursachten Infekte zu reduzieren.

Können Sie anhand eines individuellen Falls schildern, wo die Patientensicherheit nicht gewährleistet war und wie dies zu einem offensichtlichen Schaden für den Patienten führte?
Im Gesundheitswesen arbeiten wir mit CIRS, den sogenannten Critical Incident Reporting Systems. Die meisten Spitäler verfügen heute über solche Fehlermeldesysteme. Bei der Stiftung haben wir ein überregionales Fehlermeldesystem eingerichtet, das wir systematisch auswerten. Zum einen identifizieren wir damit weitere kritische «Hotspots» im Gesundheitswesen. Zum andern melden wir den Krankenhäusern typische Fehler in Arbeitsabläufen zurück und fördern so das systemische Lernen in den Kliniken. Bei einem uns gemeldeten CIRS-Beispiel ging es um die Medikation: Aufgrund des Nachweises einer Infektion verschrieb der Tagesarzt dem stationären Patienten X Antibiotika. Später stellte sich heraus, dass die Diagnose und die Massnahme für Patient Y zutrafen. Dem Patienten X wurden hohe Dosen an Antibiotika verabreicht, während Y nicht behandelt wurde. Erst viele Stunden später wurde klar, dass die Patienten verwechselt wurden. Der Fehler passierte offenbar durch Missverständnisse in einem Telefonat. Aus solchen Fällen wollen wir Lerneffekte erzeugen. Wenn wir mehrere ähnliche Meldungen erhalten, veröffentlichen wir einen sogenannten «Quick Alert», der an alle Krankenhäuser geht. Die Empfehlung beim geschilderten Verwechslungsfall: Der Empfänger soll während des Telefonats akustisch deutlich wiederholen, was er gehört hat, und sich der Identität des Patienten vergewissern.

Wer in den Spitälern ist Adressat dieser Quick Alerts und wer sollte diese Empfehlungen umsetzen?
Wir senden die Quick Alerts an alle Qualitätsbeauftragten in den Spitälern, wo sie an die Abteilungen weitergeleitet werden. Diese Dienstleistung wird übrigens sehr geschätzt. Quick Alerts betreffen auch die Pflege. So warnen wir im aktuellen Quick Alert vor Verbrennungen bei Wärmeanwendungen. An uns gelangten mehrere Meldungen von Verbrennungen durch die Auflage von Bettflaschen oder Kirschensteinsäckli bei älteren Patienten oder Kindern, die eine besonders empfindliche Haut haben.

Die Fehlerquote beim Medikationsprozess liegt im einstelligen Prozentbereich. Weshalb ist das so, und was gilt es zu tun, um diese Quote markant zu senken?
Vier bis sieben Prozent der Rehospitalisierungen werden aufgrund von unerwünschten Arzneimittelereignissen ausgelöst. Das ist beträchtlich. Die Medikation ist daher ein Thema bei einem unserer nationalen Verbesserungsprogramme. Hierbei geht es darum, den Abgleich der Medikation über die ganze Behandlungskette vorzunehmen – vom Eintritt bis zum Austritt. Nehmen wir als Beispiel einen 75-jährigen Patienten, der bereits vor dem Spitaleintritt acht bis neun verschiedene Medikamente einnimmt. Im besten Fall bringt er eine Medikationsliste mit, wo draufsteht, welches Präparat in welcher Dosis einzunehmen ist. Aber häufig zählen Patienten aus der Erinnerung diverse Produkte auf und vergessen dabei einige zu erwähnen. Also geht es darum, bei Hospitalisierungen die Liste zu aktualisieren oder zu bereinigen. Bei internen Verlegungen kann die Medikamentenliste verändert werden. Es gilt daher, alles sauber zu dokumentieren und hinsichtlich unerwünschter Nebenwirkungen oder Interaktionen zu prüfen. Bei Spitalaustritt muss das Spital den Hausarzt darüber informieren. Diese Prozesse sind komplex und deshalb fehleranfällig.
 

Technische Standards könnten doch die Sicherheit beim Medikationsprozess im Spital wesentlich erhöhen.
Hier liegt ein grosses Potenzial zur Verbesserung brach. Verschiedene Ansätze wurden jedoch schon implementiert. Hard- und Softwarelösungen, welche helfen, die Medikation zu standardisieren und zu automatisieren, sind bereits im Einsatz. Es gibt Krankenhäuser, wo die Medikation nur noch in der zentralen Spitalapotheke vorbereitet wird. Und dennoch muss vieles im Prozessablauf unter Menschen richtig zusammenspielen, damit jeder Patient genau die Medikamente bekommt, die er braucht.


Das Risikopotenzial ist aber dort am grössten, wo es um Schnittstellen geht, etwa bei Übergaben von der Nachtzur Tagesschicht in der Pflege. Hier können sich Fehler einschleichen, zum Beispiel weil jemand aus der Folgeschicht Besonderheiten bei der Abgabe von Medikamenten für einen Patienten anders interpretiert als jemand aus dem Vorgängerteam. Standardisierungspotenzial besteht bei der korrekten Verschreibung von Medikamenten und beim Vorbereiten der Medikamentenabgabe, sei es in der Zentralapotheke oder auf der Pflegestation.

Was man häufig ausblendet, ist die Rolle der Patienten. Die Teams können wechseln, während die Patienten die Einzigen sind, welche bei allen Behandlungen im Krankenhaus immer dabei sind. Mit unserer kürzlich erschienenen Patientenbroschüre wollen wir sie in ihrer Rolle als aktive und kritische Beobachter befähigen: Seien Sie aufmerksam, beobachten Sie und melden Sie sich bitte, wenn Ihnen etwas seltsam vorkommt!

Inwiefern haben das Hierarchiegefälle und eine gewisse Segregation von Berufsgruppen im beruflichen Alltag eines Spitals einen Einfluss auf die Patientensicherheit?
Wir führten 2013 und 2014 eine Studie namens «Speak-up» durch, die sich unter anderem dieser Frage widmete. Unser wissenschaftlicher Leiter, David Schwappach, führte Befragungen zu Sicherheitsbedenken bei Ärzten und Pflegefachpersonen in neun onkologischen Abteilungen durch. Verletzungen von Sicherheitsregeln oder -standards im Bereich der Hygiene, der Isolation, bei invasiven Prozeduren werden oft nicht angesprochen. Es gibt die Situation, dass jemand aus dem Pflegepersonal eine riskante Verhaltensweise im Team beobachtet. Hier müsste er oder sie eigentlich Bedenken hinsichtlich Patientensicherheit anmelden, tut es aber nicht. Auf die Frage, weshalb beobachtete Regelverletzungen nicht beanstandet wurden, wurden vielerlei Gründe erwähnt: Erstens hatten die Mitarbeitenden zu grossen Respekt vor dem Hierarchiegefälle. Zweitens wollten sie Kollegen nicht blossstellen. Drittens wollte sie den Eindruck von Inkompetenz gegenüber Patienten – beispielsweise bei der Arztvisite am Spitalbett – vermeiden. Eine Pflegefachfrau wagt es nicht immer, dem Stationsarzt zu sagen: «Entschuldigung, aber Sie haben vergessen, Ihre Hände zu desinfizieren.»

Wie sind die Rückmeldungen der Spitäler, die sich am inzwischen abgeschlossenen Pilotprogramm «progress! Sichere Chirurgie» beteiligt haben?
Alle zehn beteiligten Pilotspitäler äusserten sich sehr positiv. Wir können behaupten: Das sorgfältige Arbeiten mit Checklisten ist «salonfähig» geworden und hat sich in diesen Betrieben etabliert.

In anderen Branchen, beispielsweise bei den Airlines, gibt es längstens schon Checklisten. Warum braucht es so lange, bis Ähnliches im Gesundheitswesen institutionalisiert wird?
Das Thema «Fehler in der Medizin» wird erst seit 1999 breit diskutiert. Damals erschien ein Buch vom Institute of Medicine der USA mit dem Titel «To Err is Human». Dieses zeigte erstmals systematische Fehler in der Medizin auf und die Konsequenzen, die daraus entstehen können. Fehler in der Medizin passieren, und man muss und soll darüber reden. Es ist ja nicht so, dass Checklisten bis jetzt nicht angewendet worden wären. Aber entscheidend ist eben, dass man diese korrekt anwendet. Mit einem einfachen Abhaken – im extremsten Fall viele Stunden vor der eigentlichen Operation – ist für die Qualitätskontrolle dieses komplexen Vorgangs natürlich gar nichts gewon- nen. Übrigens arbeiten Spitalärzte oft mit Piloten oder Ex-Piloten zusammen, um die korrekte Anwendung von Checklisten zu trainieren.

Ein wesentliches Element der bundesrätlichen Strategie «Gesundheit2020» ist die Förderung des elektronischen Patientendossiers. Inwiefern würde ein solches Instrument die Patientensicherheit erhöhen?
Die Stossrichtung ist gut. Wenn dieses einmal schweizweit eingeführt wäre, wäre das ein Quantensprung nach vorne. Voraussetzung ist, dass alle Leistungserbringer im Gesundheitswesen die elektronischen Patientendossiers überall und jederzeit lesen können und dass die Leistungserbringer selbst diese immer à jour halten. Einige ungelöste Fragen bestehen beim Datenschutz, bei den Schnittstellen und Standards. Es gibt da noch viele Hürden zu überwinden. Nur ein winziges Detail: Laboranalysen werden in der Schweiz immer noch in unterschiedlichen Einheiten gemessen.

Welche Hotspots der Gesundheitsversorgung ausserhalb der Spitäler sind sonst noch im Fokus der Stiftung?
In der ambulanten Grundversorgung nenne ich als Beispiel die Triage bei telefonischer Kontaktaufnahme von Patienten mit der Arztpraxis als Hotspot der Patientensicherheit. So sind Fehleinschätzungen der Dringlichkeit des Patientenanliegens kein seltenes Ereignis. Für die betroffenen Patienten können damit ernst zu nehmende Folgen eintreten. Wir haben kürzlich einen Leitfaden für Mitarbeitende in Hausarztpraxen erstellt, um die Risiken der Telefon-Triage auf die Patientensicherheit zu senken.

Welche Massnahmen sollten auf der Ebene der Steuerung des Gesundheitswesens noch getroffen werden, um die Patientensicherheit zu verbessern?
Wir sehen einen Bedarf in der Ausund Weiterbildung des medizinischen Fachpersonals. Standards und klar strukturierte Prozesse setzen voraus, dass alle Berufsgruppen im Gesundheitswesen ein ähnliches Wissen in Bezug auf das Thema Patientensicherheit haben. Welches sind die wichtigsten Inhalte zu diesem Thema? Und auf welchem Niveau sind diese welcher Berufsgruppe zu vermitteln? Unsere Position ist: Man kann solche Standards nur einfordern, wenn man den Krankenhäusern die Ressourcen für die Ausbildung und für technische Massnahmen zuteilt.

Die Fragen stellte Manuel Fischer.

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