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Das Kassandra-Syndrom

Für viele IT-Leiter ist Transparenz über die gesamte Supply Chain der absolute Wunschtraum – und das Ziel kostspieliger IT-Projekte. Doch was nützt Transparenz, wenn es tatsächlich zu Störungen kommt? Schliesslich heisst Probleme zu erkennen noch lange nicht, sie auch lösen zu können.

Es ist der Alptraum jedes Produktionsund Logistikleiters: Bei einem Vorlieferanten geht irgendetwas schief – und die Störung arbeitet sich unbemerkt in Richtung eigenes Unternehmen vor. Bis es dann zu spät ist, bis eine produktionsnotwendige Komponente fehlt oder eine für eine Verkaufsaktion dringend benötigte Handelsware. Das kam (und kommt) angesichts fragmentierter Supply Chains durchaus vor – und löst den Ruf nach «Supply Chain Transparency» aus. Viele Unternehmen bauen sich für sehr viel Geld Frühwarnsysteme auf, von denen auch die eigenen Kunden profitieren sollen. Diese können per App auf die sie betreffenden Daten zurückgreifen. Der Datenaustausch zwischen den Unternehmen nimmt sprunghaft zu.

Allerdings stellt sich in vielen Fällen eine gewisse Ernüchterung ein. Zwar verschafft die Transparenz bei Störungen in der Supply Chain einen gewissen zeitlichen Vorsprung für die Einleitung von Gegenmassnahmen. Damit sind die Probleme aber noch lange nicht gelöst. Insofern teilen die betroffenen Unternehmen und ihre Chief Information Officers das Schicksal der trojanischen Seherin Kassandra: Diese sah zwar die Zerstörung ihrer  Stadt durch ein griechisches Heer voraus, fand aber keinen Weg, das Unglück zu verhindern.

Die Erwartungen sind viel zu hoch
Viele Unternehmen halten Transparenz für eine Art Wunderwaffe. Sie glauben, dass sich die Probleme irgendwie lösen, sobald man sie sehen kann. Das trifft für sehr einfache Sachverhalte in der Tat zu. Wenn beispielsweise ein Lkw mit einer Panne liegen bleibt, können die rechtzeitig informierten Disponenten Gegenmassnahmen treffen. Bei komplexen Sachverhalten – und die sind in Supply Chains eher die Regel – bietet Transparenz aus der Vogelperspektive einen wunderbaren Blick auf das Chaos, aber sie trägt nicht ohne Weiteres dazu bei, das Chaos zu beseitigen.

Um das Ergebnis zu beeinflussen und die Leistungskennzahlen zu verbessern, müssen kritische Fragen beantwortet werden:

  • Welche Entscheidungen sollen wir angesichts einer hohen Bandbreite an dynamischen Variablen treffen?
  • Welche Auswirkungen werden unsere Entscheidungen auf all jene Variablen und auf unsere Leistungskennzahlen haben?

Wie soll zum Beispiel die Bearbeitungsreihenfolge an einer bestimmten Maschine geändert werden, wenn ein vorrangig zu bearbeitender Auftrag eingeht? Wie ist die Routenführung der Lkw-Flotte zu ändern, damit weitere Sendungen abgeholt werden können? Oder wie soll an einem Flughafen der Einsatz der Mitarbeitenden neu organisiert werden, um der sich ständig ändernden Situation gerecht zu werden? Keine einzige dieser Fragen ist allein mithilfe von verbesserter Transparenz zu beantworten. Bei der Supply-Chain-Planung spielt eine enorme Zahl voneinander abhängiger, dynamischer Variablen eine Rolle. In einem derart komplexen System hat Transparenz allein nur einen begrenzten Wert.

Das A und O ist «gezielte» Transparenz
Bei Störungen ist Transparenz nur ein «Rohstoff» für ein optimales Handeln. Dieser Rohstoff muss veredelt werden durch eine intelligente Entscheidungsunterstützung. Die Fragen, die beantwortet werden müssen, lauten: Welche Handlungsalternativen stehen zur Verfügung? Und wie wirken sich die Handlungsalternativen unter den gegebenen Rahmenbedingungen auf die Leistungskennzahlen aus? Das Modellieren der Handlungsalternativen ist der Kreativität der Logistikplaner überlassen. Aber das Durchrechnen der Alternativen und ihrer Auswirkungen auf das Ergebnis kann ein intelligentes Entscheidungsunterstützungstool übernehmen.

Ein solches Tool berechnet permanent die Auswirkungen von Entscheidungen und ermöglicht es den Planern so,  bestmöglich zu reagieren: Ereignis x ist eingetreten, folglich ist die beste Reaktion y und als Nächstes z. Und so weiter. Entscheidungsunterstützung kann in der Planung auf zwei Arten genutzt werden: um zu entscheiden, wie auf eine geänderte Situation reagiert werden soll, und um die Auswirkung der anvisierten Entscheidung zu sehen. Anstatt nur die aktuelle Situation zu betrachten, können die Planer die Folgen ihrer Entscheidungen im Voraus erkennen und so eine möglichst positive Wirkung sicherstellen.

An einem Beispiel wird das am deutlichsten. Ein Distributionsunternehmen bekommt kurzfristig zusätzliche Transportaufträge, die sich nicht mit dem kalkulierten Rahmentourenplan abdecken lassen. Die Logistikplaner identifizieren mehrere Alternativen: Einsatz zusätzlicher Fahrzeuge, Identifikation und Verschiebung der nicht so dringenden Transportaufträge, Abdeckung einiger Touren durch ein benachbartes Depot – und natürlich das Ablehnen des zusätzlichen Auftrags. Ein Entscheidungsunterstützungstool rechnet diese Alternativen durch und zeigt deren Einfluss auf das betriebswirtschaftliche Ergebnis und dessen Zielgrössen auf.

Königsdisziplin ist die Optimierung
Ein Entscheidungsunterstützungstool hilft den Planern, bessere Entscheidungen zu treffen, aber nicht unbedingt, den Unternehmenszielen möglichst nahe zu kommen. Dazu ist eine Optimierung notwendig. Optimierung bedeutet, über den einzelnen Planungsfall hinauszugehen und sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen: Wie lassen sich in Anbetracht aller Ressourcen und der aktuellen Situation die allgemeinen Leistungskennzahlen, wie geringstmögliche Kosten, bester Kundenservice und minimale Überstunden, optimieren? Ein Optimierungstool berechnet permanent die zu ergreifenden Massnahmen und liefert Antworten auf der Grundlage von definierten KPIs. Es löst dabei Planungsinseln auf und ermöglicht eine Gesamtbetrachtung. Beispielsweise wird nicht für einen einzelnen Standort optimiert, sondern für das gesamte Standortnetz.

Das geeignete IT-Tool ist ein Supply- Chain-Planungs- und -Optimierungssystem (SCP&O). Die Anforderungen an dieses Tool sind hoch. Es muss erhebliche Datenmengen verarbeiten können, über leistungsfähige Optimierungsalgorithmen verfügen und Businessregeln als Randbedingungen in die Optimierung einbeziehen können. Das Ergebnis ist allerdings deutlich besser als das von reinen Visibility- Tools, die lediglich Hinweise auf Probleme geben.

Der Weg zur sicheren Supply Chain
Transparenz im Allgemeinen ist eben keine Wunderwaffe. Vielmehr gilt es, die Auswirkungen von Entscheidungen auf lokaler Ebene zu erkennen, also eine gezielte Transparenz herzustellen. Zusammen mit einem Überblick über das grosse Ganze ist schliesslich eine nachhaltige und übergreifende Optimierung möglich. So können Supply Chains auch im Falle von Unwägbarkeiten sicher gestaltet und letztendlich die Unternehmensziele umgesetzt werden.

Frank Tinschert
Business Unit Director Logistics bei Quintiq

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