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Wie sich die MEM-Industrie fit hält

Lean Management ist nicht nur eine betriebswirtschaftliche oder fertigungs- technische Frage, gerade auch in der Industrie. Eine angstfreie und offene Unternehmenskultur des ständigen Austausches und Verbesserns motiviert, Krisenphasen zu bewältigen.

Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Der Titel einer Endlos-Fernsehserie würde auch zu dem über die Jahrzehnte bewältigten Auf und Ab der schweizerischen Industrie passen. Aktuell meldet Swissmem, der Verband der Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie, für das zweite Quartal 2020 einen coronabedingten Einbruch bei Auftragseingängen (?19,5 %), Umsätzen (?19,7 %) und Exporten (?24,6 %) gegenüber der Vorjahresperiode.

Mit Lean Management aus dem Tal
Drehen wir das Rad der Zeit zurück, begegnen wir guten Jahren (Auftragsvolumen 2017: +7,5 %  gegenüber Vorjahr; Aufträge 2018: +6,5 % gegenüber Vorjahr)  und  machen  einen  Stopp am 15. Januar 2015: Als an diesem Tag die Schweizerische Nationalbank die Euro-Kurs-Untergrenze aufhob, sprang der Franken wertmässig in die Höhe. Die MEM-Industrie sah sich infolge des «Frankenschocks» mit einer schlagartigen Verteuerung ihrer Produkte auf den Exportmärkten konfrontiert. Nun waren eine Strategie mit tauglichen Massnahmen und beherztes Um- setzen gefragt, um wettbewerbsfähig zu bleiben und Organisation und Prozesse langfristig krisenresistenter zu machen. Nicht von ungefähr entfaltete Lean Management – als Betriebsphilosophie der stetigen Verbesserung zur effizienten Gestaltung der Wertschöpfungskette – eine Breitenwirkung wie nie zuvor, wie nachfolgende Beispiele zeigen.

Kundenspezifisches Geschäft
Auf den Frankenschock angetippt, spricht Peter Dähler, Vice President Operations bei der Rychiger AG, einem Hersteller kundenspezifischer Verpackungsmaschinen für Füll- und Siegelanwendungen (z.B. Kaffee und Healthcareprodukte), von einem «einschneidenden Erlebnis». Schon seit geraumer Zeit sei klar gewesen, dass Mitbewerber aus Norditalien oder Deutschland zu halb so hohen Lohnkosten vergleichbare Produkte herstellten. Man suchte nun nach Wegen, diesen Nachteil auf andere Weise wettzumachen.

In der Wechselwirkung zwischen Kundenwunsch, technischer Dokumentation und industrieller Fertigung hatte man viele Verschwendungen mithilfe der Lean-Methodik entdeckt und eliminiert. Ein auf das Geschäftsmodell des Unternehmens angepasstes Shopfloor- Management wurde als produktions- nahes Führungsinstrument eingeführt. Damit habe sich der Informationsfluss zwischen Technik, Planungsbüros und der Produktion beschleunigt und Prozesse seien für alle Beteiligten transparenter geworden. «Wir sind viel agiler geworden, sind zusammengerückt», resümiert Dähler.

Konkrete Projekte zur Verbesserung der Produktivität: Die Gestaltung der Montage-Arbeitsplätze wurde optimiert. Rüstzeiten für das Bereithalten von Werkstücken und Werkzeugen wurden analysiert und verringert. Betriebliche Prozesse, wie beispielsweise das Änderungsmanagement, wurden neu aufgesetzt und beschleunigt.

Schleifmaschinen
Der 15. Januar 2015 hat auch für die Agathon AG, einen exportorientierten Hersteller hochpräziser Wendeplatten- Schleifmaschinen, eine besondere Bedeutung. Genau an diesem Tag trat einer der neuen Eigentümer des Unternehmens seinen ersten Arbeitstag an. Sehr bald formulierte man eine fokussierte Wachstumsstrategie: Bis 2020 sollte im Betrieb Bellach bei Solothurn der Ausstoss an Maschinen verdoppelt werden, was 2019 erreicht wurde.

Umstellungen in der Produktion ermöglichten dies, wie ein Gang durch die Werkstatt zeigt: Für die Vormontage und die Montage wurden standardisierte Arbeitsplätze errichtet. Die Werkzeuge sind übersichtlich angeordnet, Werkstücke in Griffnähe platziert, Zeichnungen und Montage-Anleitungen via Bildschirm auf Sichthöhe leicht konsultierbar.

Ausserdem führte man eine getaktete Fliessmontage ein. Die zu fertigenden Maschinentypen werden auf Panzer- rollen von einem Montageplatz zum andern weitergereicht. Die verschiedenen Baugruppen werden im Rhythmus des Endmontage-Takts in der Vormontage gefertigt und anschliessend in der Endmontage sofort weiterverarbeitet.

Herzstück der Agathon-Fliessmontage ist die zentrale Einheit für die Energie- und Kühlmittelversorgung. Die einzelnen Takte der Fliessmontage sind um diese Einheit herum angeordnet. Alle Maschinen, die sich im Aufbau befinden, lassen sich an die Stromversorgung und mit einer Schnellkupplung an die Kühlmittelversorgung anschliessen.

Ständiger Informationsfluss
Ebenso bedeutend ist auch der Wandel in der Unternehmenskultur, der auf mehr Verantwortung und aktives Mit- denken der Mitarbeitenden an der Basis setzt. Die in den betrieblichen Alltag eingebauten Shopfloor-Meetings unter- streichen die Bedeutung der transparenten Kommunikation zwischen Führung, Mitarbeitenden, auch zwischen den Abteilungen (Einkauf, Montage, Qualitätsmanagement usw.). Damit soll auch die Sicht des Kunden in den Abläufen vermehrt berücksichtigt und das ständige Streben nach höchster Qualität verinnerlicht werden. Offene Fragen aus der Produktion werden in Farben signalisiert (rot: Problem noch offen, grün: Fall gelöst). Der kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP) hat auch Konsequenzen für die Geschäftspartner von Agathon. Lieferpartner haben beispielsweise die zu verbauenden Bleche pro Losgrösse übersichtlich und griff- bereit anzuliefern.

Fertigung von Normalien
Aufgrund der positiven Erfahrungen soll das zweite Geschäftsfeld der Firma, die Herstellung sogenannter Normalien, (Führungselemente für den Maschinen- und Werkzeugbau) eben- falls nach Lean-Prinzipien neu organisiert werden. Dies sei durchaus eine Knacknuss, wie Dominik Schwägli, COO bei der Agathon AG, schildert: «Die klassische Werkstattfertigung ist technologieorientiert. Das heisst: Die einen Mitarbeiter fräsen, andere drehen, wiederum andere schleifen und honen an Werkstücken. Die Interaktion zwischen den Abteilungen ist gering.» Neu werden die Fertigungstechnologien zu Produktionsinseln kombiniert. Um Mitarbeitende in Zukunft polyvalent einzusetzen, braucht es deren Qualifizierung und eine angepasste Führungsstruktur. Damit ist das Unternehmen in der Lage, viel flexibler und rascher Aufträge für Führungselemente abzuwickeln.

Schlank bleiben
Dominik Schwägli streicht heraus: «Das Konzept ist nicht bei mir am Schreib- tisch, sondern in Workshops mit Mitarbeitenden entstanden.» Stellt sich nur die Frage: Inwiefern darf Lean Management von den Mitarbeitenden unternehmerisches Handeln abverlangen, wenn in rezessiven Zeiten das persönliche Sorgenbarometer steigt? Daniel Odermatt, CEO von Leancom mit grosser Erfahrung im Bereich der Implementierung von Lean-Prozessen in der Industrie, sagt dazu: «Lean Management beinhaltet nicht nur Instrumente. Es ist eine Philosophie der unaufhörlichen, kontinuierlichen Verbesserung. Mitarbeitende in Unternehmen mit hohem Lean-Reifegrad sind sich Veränderungen gewohnt und können daher besser damit umgehen.» Solche Firmen seien in der Lage, auch in schwierigen Zeiten Verbesserungen umzusetzen, um gestärkt aus der Krise zu kommen. Überdies: Eine Entlassung dürfe nie das Ziel eines KVP sein. Was die Beispiele zudem zeigen: Lean Management ist für die operative Produktplanung unverzichtbar geworden.

«Dank rechtzeitig eintreffenden und strukturierten Informationen aus der Fertigung kann ich die Produktivität auch bei Auftragsflauten hoch halten», sagt dazu Schwägli. Ähnlich sieht es Peter Dähler von Rychiger AG: «Mit konsequentem Prozessdenken werden Probleme unmittelbar sichtbar, und wir können rascher auf Störungen re- agieren.»|

Manuel Fischer

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