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Der Nutzen wächst mit der Teilnehmerzahl

Die Migros und zwei Partnerunternehmen betreten mit einem komplexen Datenprojekt Neuland. Doch der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten. Es gibt nicht nur grosse Anerkennung, sondern auch viele handfeste Vorteile.

Der Swiss Logistics Award 2020 ist eine verdiente Auszeichnung für den vom Migros-Genossenschafts-Bund geschaffenen Marktplatz der Logistikdaten. Den eigentlichen Gewinn geniessen die beteiligten Projektpartner aber jeden Tag: Der Marktplatz der Logistikdaten ist die Grundlage für ein komplett neues Material- und Informationsflussmanagementsystem. Mit hoher Datentransparenz auf Basis konsequent eingesetzter GS1 Standards erlaubt er eine fundamentale Digitalisierung der Supply Chain, die jetzt fit ist für die kommenden Jahrzehnte.

Der Datenmarktplatz basiert auf dem EPCIS-Standard von GS1 in Kombination mit einer eindeutigen Identifikation relevanter logistischer Einheiten (GRAI/RFID auf Mehrwegtransportverpackungen, SSCC auf Paletten) sowie deren Nutzung in der Praxis des Detailhandels. «Nach unserem Kenntnisstand ist unser Marktplatz der Logistikdaten die einzige vollumfängliche Implementierung dieses Standards über ein Netzwerk aus Produzenten, Logistikern und Handelsunternehmen im Schweizer Markt», heisst es in den Bewerbungsunterlagen für den Swiss Logistics Award. Insbesondere handelt es sich dabei nicht um ein Forschungsprojekt, sondern um ein operativ bereits funktionierendes Konzept, das der Belieferung der Verteilzentren und Filialen sowie der Warenbereitstellung für die Kundschaft dient.

Mehrere Projektpartner haben es zusammen so weit gebracht: der Migros- Genossenschafts-Bund zusammen mit der Migros Ostschweiz, der Herbert Ospelt Anstalt und der Bufis AG. Die Handelspartner bewegen jährlich grosse Gütermengen. In rund 65 000 Lkw- Ladungen fahren sie 2,6 Millionen Paletten respektive 36 Millionen Gebinde oder 551 Millionen Bestelleinheiten durch das Land: über die Betriebszentrale der Migros Ostschweiz bis in die Filialen des Grossverteilers zu den Kundinnen und Kunden.

Lange Mängelliste adressiert
Im Lauf der Jahre akkumulierten sich immer mehr einzelne Problemstellungen, die nun durch eine gänzlich neue Sichtweise auf die firmenübergreifende Supply Chain adressiert wurden. So standen beispielsweise die etablierten Lieferketten und ihre Begleitprozesse schon länger unter Druck durch neue Trends. Vielschichtige Verkaufskanäle reichten über immer mehr Sortimente hinweg. Die Kunden trennten Kaufentscheidung, Kaufort und Leistungsort zunehmend. Gleichzeitig kam es zu einer Verkleinerung der Einzelmengen und einer Zunahme der Warenbewegungen. Die Taktfrequenz der Warenbewegungen stieg, während die Last pro Bewegung zurückging. «Diese Veränderung steht den Grundsätzen einer schlanken Organisation von logistischer Wertschöpfung diametral entgegen », erkannten die Projektpartner schon früh.

Ferner fehlten beim Transport und der Lagerung belastbare Bestandsinforma-tionen, die ein annähernd korrektes Bild der Realität liefern. In der Lagerverwaltung wurde häufig improvisiert oder relevantes Wissen war nur personengebunden vorhanden. Die Verwendung von Papieretiketten war zeit- und materialintensiv. Gingen diese Etiketten beim Transport verloren, gelangte die Ware schlimmstenfalls nicht mehr in den Verkauf. Zudem fehlten wichtige logistische Informationen. Oft war nicht bekannt, welche Ware in welchem Gebinde auf welcher Palette in welchem Fahrzeug wann angeliefert würde. Kommissionierte der Lieferant Gebinde für eine Filiale, war deren Inhalt nicht bekannt. Jedes Gebinde hatte nur die Empfängerfiliale als Attribut. Den Filialen fehlte eine mit dem tatsächlichen Warenbestand übereinstimmende Information. Die Planung auf der Fläche wurde anspruchsvoll, man musste Ware suchen oder es kam zu Out-of-Stock- Situationen und Bestandsübermengen. Auch die grosse Heterogenität der Anwendungslandschaft erschwerte durchgängige Informationsflüsse. Diese Situation bestand sowohl in horizontaler (Lieferanten und Kunden) als auch in vertikaler Hinsicht (Warenwirtschaftssysteme bis Logistik).

Frei von etablierten Fesseln
Mit dem bestens etablierten EDI liess sich all das nicht adressieren. Aktuell sind mehr als 700 Lieferanten an die Warenwirtschaftssysteme der Migros angeschlossen. Allerdings stösst EDI beim unternehmensübergreifenden Austausch eventbasierter und echtzeitnaher Statusinformationen an seine Grenzen, da es in der Regel nur zwischen Warenwirtschaftssystemen funktioniert, die keine Detailinformationen zu logistischen Einheiten und deren Status führen. Die einmalige Punkt-zu- Punkt-Kommunikation im klassischen EDI verhinderte zudem die Nutzung einmal generierter Informationen für weitere Empfänger innerhalb der Wertschöpfungskette zu einem anderen Zeitpunkt.

Der neue Marktplatz der Logistikdaten sollte deshalb die Grundlage einer ereignisgesteuerten, hoch automatisierten und flexiblen Handelslogistik sein. Er funktioniert als eine gemeinsame Abstraktionsschicht, in welche die Partner generierte Daten aus relevanten Prozessen einspeisen und aus der sie wiederum für sie jeweils relevante Daten beziehen können. Er grenzt sich vom weiterhin genutzten EDI auch durch den Wechsel vom Push- zum Pull-Prinzip ab. Eine Push-Kommunikation würde angesichts der vielen erfassten datengenerierenden Events rasch zu unsinnigen Volumen führen, vor allem wenn diese Events auf einer sehr granularen Ebene von physischen Objekten wie einem Mehrweggebinde verursacht werden.

Daten: Wertstoff aus dem Hintergrund
Die relevanten Informationen entstehen in den Produktions- und Logistikprozessen der beteiligten Unternehmen. Durch den Einsatz von Technologien wie RFID oder kamerabasierter Erkennung entstehen Informationen in den Prozessen weitgehend automatisch im Hintergrund und decken die Wertschöpfungskette aller Beteiligten – von der Produktion über das Verpacken, Kommissionieren, Verladen, Transportieren, Entladen, Vereinzeln und erneute Verteilen bis hin zum Kühlregal in der Filiale – vollständig ab.

Trigger für die Generierung einer Information in Form eines Events ist die Identifikation im Prozess. Beispielsweise wird ein Gebinde via RFID oder Scanning erkannt. Die Identifikationsdaten werden nun mit Business- Kontext angereichert, der beschreibt was stattgefunden hat. So zeigt die WAS-Information die oder das identifizierte Objekt und eine eventuelle Beziehung zu anderen Objekten. Die WANN-Information ist der Zeitpunkt, zu dem die Identifikation stattgefunden hat. Dank standardisierter Schlüssel für Lokationen (SGLN) können sogar einzelne Kommissionierstationen oder Lagerplätze als Ort der Identifikation angegeben werden. Die WARUMInformation wiederum beschreibt den Prozess unter Nutzung des weltweit gültigen Standardvokabulars, welches im sogenannten Core-Business-Vocabulary 5 branchenübergreifend verabschiedet und festgehalten ist.

Flexibilität mit EPCIS
Die Daten werden auf Basis des offenen Kommunikationsstandards EPCIS von GS1 erfasst und gespeichert. Die-ser Standard wurde gewählt, weil er die ideale Basis für den Einbezug zahlreicher Partner bietet. In EPCISLandschaften publiziert jeder Prozessbeteiligte die bei ihm entstandenen prozessrelevanten Daten (publish). Gleichzeitig greift er auf von anderen publizierte Daten zu (subscribe), um diese in seinen Prozessen zu nutzen.

Diese Architektur bietet Unabhängigkeit bei hoher Vollständigkeit und Qualität der Information in komplexen Netzwerken. Insbesondere ist keine direkte Abstimmung der beteiligten Systeme bei den verschiedenen Partnern nötig; die Infrastruktur kann wachsen und Dienste lassen sich einfach hinzufügen. Ausserdem können vorhandene Informationen beliebig oft von verschiedenen Nutzern abgerufen werden, ohne dass die Datenquellen dafür einen Aufwand betreiben müssen. Dank der hohen Standardisierung kommt es nicht zu einer «Insellösung». Die Verwendungszwecke der Daten bei den Marktplatzpartnern sind vielseitig und reichen vom Sicherstellen einer durchgängigen Rückverfolgbarkeit bis hin zu automatischen Wareneingängen und Bestandsführungen. Produzenten erfahren, ob ihre Lieferung vereinnahmt wurde und lösen zeitnah die Rechnungsstellung aus. Ein Verteilzentrum kann einzelne Gebinde automatisiert einer Auslieferungstour zuordnen und mit anderen Gebinden mit gleichem Ziel zu einer Palette zusammenstellen. Konsumenten erfahren online wie auch stationär mehr über das Produkt, um sich beim Kaufentscheid von den eigenen Werten und Überzeugungen leiten zu lassen.

Mehrschichtiger Nutzen
Die Vorteile, die der Datenmarktplatz generiert, sind sehr vielschichtig. In mehreren Bereichen der logistischen Wertschöpfung ergaben sich Automatisierungs-, Informations- und Transformationsgewinne. Allein schon der Automatisierungsnutzen amortisierte den Aufwand für das Projekt, heisst es. Beispielsweise fielen Etikettierprozesse weg, der Wareneingang liess sich dank RFID automatisieren und vielfach wurden manuelle Korrekturen, Abschlüsse oder Informationseingaben überflüssig. Verarbeitungsanlagen werden mit avisierten Paletten automatisch beschickt und RFID erlaubt eine automatische Versandkontrolle.

Der Informationsnutzen besteht in einer höheren Datensicherheit bei der Arbeit und einer sinkenden Zahl an Nachfragen. Anlieferungen oder Objekte können frühzeitig disponiert werden, es gibt keine Dunkelfelder beim Inhalt lieferantenkommissionierter Gebinde mehr und die Bestandsinformationen sind belastbarer und erlauben eine permanente Inventur aller Bestandstypen. Die Transparenz der Materialflüsse erlaubt erstmals eine Gesamtsicht dieser Vorgänge.

Schliesslich eröffnet der Transformationsnutzen neue Dimensionen. Es kommt zu innovativen Prozessneuheiten wie einer Buchung bei Leistung oder bisher «betonierte» Distributionskanäle und Zeitfenster werden aufgelöst. Gleiches gilt für grosse logistische Objekte (Ausliefertouren). Innerhalb der Materialflüsse kann mit einer Prioritätensteuerung gearbeitet werden. Die Migros Ostschweiz realisiert aus den neu möglichen Logistikprozessen einen erheblichen Einsparungsgewinn und eine bedeutende Prozessverschlankung. Diese generieren aus verschiedenen betroffenen Prozessen, beispielsweise weniger Palettenhandling und Scanvorgänge, weniger Datenerfassung und Vereinzelung wie auch eine höhere Prozesssicherheit. Der Nutzen in der Betriebszentrale strahlt auch auf die Zulieferer aus. Sie können logistische Einheiten verdichten und Transportkosten senken.

Alexander Saheb

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