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Traceability beim Impfen – Es braucht Initiativen vor Ort

Viele Länder haben es verpasst, für die anlaufende Covid-19-Impfkampagne eine lückenlose und standardisierte Rückverfolgbarkeit und Patientensicherheit aufzubauen. Ulrike Kreysa, Senior Vice-President Healthcare bei GS1 Global Office, verweist aber auf aktuelle Lernprozesse, die zu einem Digitalisierungsschub führen werden.

GS1 network: Ein aktuelles White Paper der Beratungsfirma Deloitte fordert das Verwenden von GS1 Standards für die Covid-19-Impfkampagne. Wie bekannt sind die GS1 Standards bei den Gesundheitsbehörden weltweit?
Ulrike Kreysa: Noch vor zehn Jahren war es so, dass man gegenüber Regierungsstellen den Nutzen länderübergreifender Standards für die Rückverfolgbarkeit aufzeigen und auf die Interoperabilität von Systemen pochen musste. Heute sind wir weiter: Zahlreiche Gesundheitsbehörden weltweit haben den Nutzen eines global gültigen Identifikations- und Kennzeichnungssystems erkannt. Da gibt es inzwischen viele Initiativen – sowohl für den Pharma- als auch für den Medizinproduktebereich.

Nun liegt der Fokus unserer Anstrengungen vielmehr auf einer harmonisierten Implementierung von GS1 Standards im Gesundheitswesen. Ein einfaches Beispiel: Bei der Identifizierung verschreibungspflichtiger Arzneimittel haben wir die Datenelemente GTIN, Verfalldatum, Seriennummer und Lotnummer. Wir drängen darauf, dass es bei diesen vier Datenelementen bleibt. Alle zusätzlichen Elemente sollen in Datenbanken abgelegt werden. Innerhalb einer globalen Supply Chain sollen die Anforderungen nicht zu komplex werden.

Die aktuelle Impfkampagne birgt viele Herausforderungen. Ein Grund, weshalb man zu Beginn nicht an die Implementierung von globalen Standards dachte?
Zu Beginn der Pandemie sowie während der Entwicklungs- und der ersten Produktionsphase waren die Aufmerksamkeit und die ganze Energie der Behörden darauf angelegt, so schnell wie möglich Impfstoffe auf den Markt zu bekommen, um rasch mit der Impfaktion zu beginnen, nach dem Motto von US-Präsident Joe Biden: «Get the jab in the arm.»

Leider – und viele teilen meine Ansicht – hat man es verpasst, schon während der Entwicklungsphase und in der Vorbereitung der Impfkampagne Kennzeichnungs-Standards zu integrieren, die uns erlaubt hätten, eine lückenlose Dokumentation hinsichtlich Rückverfolgbarkeit und Patientensicherheit aufzubauen – von den Patienten zurück bis zu den Herstellern.

Das heisst: Zu Beginn einer Kampagne muss es Fachleute in den Behörden haben, die das Sicherstellen der Rückverfolgbarkeit und der Pharmakovigilanz mithilfe moderner Standards als Projekt verstehen?
Ja, ganz genau. Es kommt darauf an, ob es bei den Behörden Fachleute gibt, die sich im Bereich Identifikationsstandards auskennen, und inwiefern die Gesundheitsdienste in ihrer Logistik bereits mit globalen Kennzeichnungsstandards arbeiten. Und falls damit noch nicht gearbeitet wird, stellt sich die Frage, wie viel Aufwand es für die Implementierung eines solchen Systems braucht. Wie wir in unserem Webinar «2nd Executive Dialogue» aufzeigen konnten, haben nur wenige Länder, darunter Irland, die Türkei und Australien, frühzeitig daran gedacht, mit einer solchen Struktur die Impfkampagne zu starten.

Aktuell ist die Nachfrage nach Impfstoffen viel grösser als das Angebot und bei komplementären Produkten kommt es zu Lieferengpässen. Solche Aufgaben sind mit GS1 Standards nicht zu lösen.
Bezüglich der momentanen Übernachfrage nach Impfstoffen kann nur die Industrie mit ihrer Produktion helfen. Doch künftig wird es wichtig, wieder vermehrt Kontrolle in eine reguläre Supply Chain zu bekommen: Welche Impfstoffe sind wo gelagert? Wo können sie eingesetzt werden? Wo sind sie verfügbar? Welche verfallen? Da können unsere Standards helfen.

Organisationen wie die WHO, Gavi und UNICEF empfehlen in ihren Richtlinien die Verwendung von GS1 Standards für Impfkampagnen. Wurden, angesichts des hohen Tempos bei der Produktion und der Verteilung, solche Empfehlungen vorerst in den Wind geschlagen?
Wir müssen unterscheiden. Zum einen hat jüngst die WHO eine Anleitung zur Rückverfolgbarkeit von Medizinprodukten publiziert. Das ist ein bedeutender Wendepunkt, da die WHO sich bislang zurückhielt, sich für bestimmte Standards auszusprechen.

Zum andern haben die Gavi-Stiftung und das UN-Kinderhilfswerk UNICEF die Verwendung von GS1 Standards bei der Durchführung von Impfkampagnen unterstützt – und zwar schon im Oktober 2019, also kurz vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie. Wenn Gavi oder UNICEF aktuell eine hohe Anzahl an Covid- 19-Impfstoffen aufkaufen, sind die Hersteller in einer Ausschreibung aufgefordert, ihre Produkte nach GS1 Standards zu kennzeichnen.

Was unternehmen GS1 und die einzelnen Länderorganisationen, damit die Forderungen und Empfehlungen auch berücksichtigt und umgesetzt werden? Was ist die Rolle von GS1 Global Office?
Wir haben eine klare Arbeitsteilung. Auf globaler Ebene arbeitet GS1 Global Office mit internationalen Organisationen wie der WHO und UNICEF zusammen. Bei der Implementierung von Standards in den einzelnen Ländern spielen unsere Länderorganisationen eine sehr wichtige Rolle. Sie sind es, welche in ihrer lokalen Sprache mit ihren Ansprechpartnern nach Lösungen suchen und konkrete Projekte mit den nationalen Ministerien und Gesund-heitsdiensten veranlassen. Es braucht das notwendige Wissen zu spezifischen Voraussetzungen vor Ort, ebenso Schulungen, um Standards durchzusetzen. Die nationale Verankerung ist eine ganz grosse Stärke der GS1 Organisation.

Die Forderung «We need not only the right vaccine but the right vaccination » führt zur Konsequenz, Patientendaten mit den Produktdaten zu verknüpfen. Wie lässt sie sich konkret mit dem GS1 System umsetzen?
Ideal wäre die Verwendung einer Global Service Relation Number (GSRN). Sie identifiziert die Beziehung zwischen einer Organisation, die eine Dienstleistung anbietet – in unserem Fall ein Krankenhaus –, und dem Empfänger dieses Service, dem Patienten, eindeutig. Der britische National Health Service (NHS) nutzt die GSRN, um jeden Behandlungsfall mit der nationalen NHS-Nummer für jeden Patienten automatisch zu verknüpfen.

Aber ich mache mir keine Illusionen. Die GSRN ist als Identifikationsschlüssel für Services weltweit noch längst nicht so weit verbreitet wie die GTIN, der Identifikationsschlüssel für Produkte. Eine Implementierung eines Standards muss ja, wie erwähnt, immer aufgrund eines konkreten Projekts auf nationaler und regionaler Ebene geschehen. Welche Identifikationsschlüssel auch im-mer genutzt werden: Eine Systematik muss gewährleisten, dass die Patientendaten präzise mit den Produktdaten verknüpft werden.

Gelingt es Ländern mit einer zentralistisch organisierten Gesundheitsversorgung besser, Rückverfolgbarkeit und Patientensicherheit mithilfe von Standards durchzuführen? Wie ist Ihre Einschätzung?
Wir haben gesehen, dass föderale Strukturen in mancher Hinsicht schnelle Entscheidungen schwieriger machen. Ein Staat, der eine zentrale Behörde mit weitreichenden Befugnissen hat, kann ein Standardisierungsprojekt für das ganze Land natürlich schneller umsetzen. Das haben wir in Irland gerade gesehen.

Wenn Sie mich fragen, welches Land die weitreichendsten Rückverfolgungs- Mechanismen hat, so ist das ganz klar die Türkei. Das Gesundheitsministerium weiss zu jedem Zeitpunkt, in welchem Landesteil Medikamente Mangelware oder in welcher Apotheke welche Produkte vorhanden sind. Die USA und Europa sind noch nicht so weit, aber auf dem Weg dahin.

Gibt es Grund zur Zuversicht, dass staatliche Akteure in Zukunft vermehrt auf GS1 Standards setzen werden?
Ganz klar wird man in Zukunft vermehrt auf die Einhaltung von Standards achten. Die Impfstoffe, die jüngst auf den Markt gekommen sind, unterliegen ja in der EU der False Medicine Directive (FMD). Da gab es nur für die ersten Monate eine Ausnahmebewilligung bei der Kennzeichnung. Auf Dauer möchte die EU, dass Impfstoffe dieselben Identifizierungsschlüssel und Kennzeichnungen aufweisen wie übliche verschreibungspflichtige Arzneimittel.

Wegen der Virus-Varianten müssen wir uns zudem auf ein Szenario mit regelmässigen Nachimpfungen vorbereiten. Das könnte in Zukunft sehr wohl zu unserem Alltag gehören. So besteht die Aussicht, dass die Vakzine bald standardisiert gekennzeichnet und auch entlang der Supply Chain gescannt werden, da wir uns wieder in einer planbaren und überschaubaren Lieferkette bewegen werden.

Die Fragen stellte Manuel Fischer

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