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Wissens- und Erfahrungsmanagement

Nicolas Florin, CEO GS1 Schweiz(bs) Seit fünf Jahren sitzt Nicolas Florin als CEO am Steuer von GS1 Schweiz. Im Interview erläutert er, wo in dieser Zeit Fortschritte gemacht wurden und wo es noch Baustellen gibt, was zu tun wäre, um Krankenkassenprämien zu sparen, und welchem Trend er die grössten Chancen gibt.

GS1 network: Seit dem 1. Juli 2006 sind Sie CEO von GS1 Schweiz. Sie sprachen beim ersten Interview mit GS1 network 2006 von «Fusionsnachwehen ». Wie sieht das heute aus?
Nicolas Florin: Diese sind längst überwunden, von Fusion spricht hier niemand mehr! Bemerkenswert ist ja, dass das «Stammpersonal» praktisch unverändert geblieben ist. Das heisst, dass die Leute hier ihren Platz gefunden haben, sich wohlfühlen und ihrer Arbeit engagiert nachgehen.

 

In welchen Bereichen haben Sie in den letzten fünf Jahren Schwerpunkte gesetzt und am meisten Fortschritte gemacht?
Der Verband hat heute rund 4700 Mitglieder und ist damit seit 2005 um etwa 14 Prozent gewachsen. Selbst in den zwei Krisenjahren 2008/09 haben wir es geschafft, schwarze Zahlen zu schreiben und auch eine Steigerung der Mitgliederzahlen zu erreichen. Inhaltlich konzentrieren wir uns darauf, dass alle unsere Aktivitäten der Optimierung der Wertschöpfungskette dienen, und zwar über die gesamte Kette gesehen, nicht auf Stufe der einzelnen Glieder. So haben wir beispielsweise bei den Events das Angebot quantitativ und insbesondere qualitativ erweitert. Unsere drei eidgenössischen Prüfungen wurden in den vergangenen drei Jahren vollständig überarbeitet, und im letzten Herbst konnten bereits die ersten Lehrgänge nach neuem Modus gestartet werden. Im Bereich der Logistik und Infrastruktur stellen wir zusammen mit der HSG seit vier Jahren ein mittlerweile etabliertes Nachschlagewerk in Form der Schweizerischen Logistikmarktstudie dem Markt zur Verfügung. Und auch die fünfte Ausgabe verspricht wieder ein paar interessante Neuerungen. Bei Identification/Communication wie auch bei Demand/Supply Chain Processes erarbeiten wir zusammen mit Mitgliedern praxisorientierte und nicht branchenbezogene Leitfäden. Unter anderem konzentrieren wir uns auf das Gesundheitswesen. Viele Aktivitäten, vor allem bei eHealth, sind eine Folge der bereits eingeführten Identifikationssysteme von GS1. Viele Projekte sind nur dadurch möglich geworden, dass GS1 die Grundlagen beigesteuert hat. Eine fortschrittliche Wertschöpfungskette im Bereich Konsumgüter ist nach wie vor unser Paradepferd, nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit.

In welchen Bereichen liegt noch Potenzial?
Überall. Wesentliche Lücken gibt es zum Beispiel noch bei den Konsumgütern im Bereich Nonfood, etwa bei Büchern und Bekleidung, da hat sich in den letzten Jahren wenig entwickelt. In diesem Bereich könnten die neuen Technologien wie RFID dazu beitragen, Probleme mit der Diebstahlsicherung zu lösen. Ein sehr interessantes Gebiet ist das ganze Thema Mobile Commerce: das Verfügbarmachen von Produkteinformationen auf den Smartphones der Konsumenten. Im Gesundheitswesen liegt wie gesagt ebenfalls noch ein grosses Potenzial. Denn es kann nicht sein, dass wir Versicherte jedes Jahr mehr Krankenkassenprämien bezahlen und dafür  Steuergelder aufwenden, nur weil eine ganze Branche nicht bereit ist, eine gemeinsame Vision zu entwickeln.

Woran liegt das?
Diese Ineffizienz entsteht dadurch, dass laufend punktuelle, zusammenhangslose und aus allen Richtungen herkommende sogenannte Massnahmen getroffen oder verordnet werden. Der Versuch, in einem heute stark regulierten Markt betriebswirtschaftliche Prinzipien «zu verordnen», kann meiner Ansicht nach nicht oder nur sehr punktuell funktionieren. Hier müssen die Akteure und insbesondere auch die Behörden endlich entscheiden, was sie wollen. Die gegenwärtige Mischform ist sehr unglücklich, weil nicht die Wertschöpfungskette als Ganzes betrachtet wird. Für die einzelnen Akteure ist es somit schwierig, klare, gemeinsame Strategien zu entwickeln.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Einführung von Fallpauschalen (DRG)?
Die DRG sind punktuelle Massnahmen, die effizienzmässig sicher etwas bringen werden, auch wenn sie anfangs Mehrkosten verursachen. Was uns aber fehlt, sind eine gesamtheitliche Sicht und ein effizientes Zusammenspiel aller Player im Gesundheitswesen. Solange das nicht klappt und solange man es nicht schafft, die Schnittstellen auch im Gesundheitswesen zu optimieren, wird es nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung kommen. Wenn der Handel sich so verhalten würde wie ein Spital in der Schweiz, dann  würde das Joghurt vermutlich das Zehnfache kosten.

Wo setzt GS1 auf internationaler Ebene die Prioritäten?
Ganz klar bei der Konsumgüterindustrie: Sie ist unser «Herz». Ein grosser Fokus liegt auch auf dem Gesundheitswesen. In letzter Zeit sind neue Branchen dazugekommen, vorab die ganze Logistikbranche, auch das Banking ist stark aufgekommen, insbesondere in Europa, wo das ganze Cash- Handling der nationalen Zentralbanken überdacht wird.

Sie haben vorhin von Mobile Commerce gesprochen. Welche Rolle wird dieses Thema in Zukunft spielen?
Das wird zunehmend wichtiger und ist eines der wichtigsten Themen der Zukunft. Heute haben viele, vor allem Jugendliche, das Internet in der Hosentasche und die Vernetzung nimmt weiter zu. Das wird zu Verhaltensänderungen führen. Aber auch im Bereich des Informationsaustausches und der Verfügbarkeit von Informationen wird es zu Veränderungen kommen, die die Supply Chain beeinflussen werden. Nur schon die Tatsache, dass man immer mehr Produkte online kaufen kann, wird das Konsumverhalten verändern.

Und welche Rolle spielt GS1 dabei?
GS1 arbeitet heute vor allem an Projekten, bei denen es um die Qualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen geht. Grundsätzlich gilt für uns: Weil Kommunikation immer wichtiger wird, aber komplex ist, muss über Lösungen gesprochen werden, nicht über Systeme. Unsere Prozessmodelle – vom Category Management bis zur Supply Chain – und unsere Standards eignen sich bestens, diese Entwicklungen effizient zu antizipieren.

Kommunikation beinhaltet auch eine inhaltliche Komponente, bei der es um das Finden von Kompromissen geht. Was kann GS1 hier anbieten?
Eine der Stärken von GS1 ist die Fähigkeit, sogenannte «runde Tische» zu organisieren und zu managen, das heisst: unterschiedliche Menschen und Interessenbindungen an einen Tisch zu bringen und nach Lösungen zu suchen, die für alle von Vorteil sind. Solche Prozesse brauchen Zeit. Dazu gehört aber auch eine gewisse Portion Hartnäckigkeit und Ausdauer. Das können wir einbringen. Im Endeffekt machen wir Wissens- und Erfahrungsmanagement. Und wir sind in der Lage, Trends zu erkennen und Tabus anzusprechen.

Besteht durch die Dominanz grosser Player nicht die Gefahr, dass die KMU etwas untergehen?
Diese Gefahr besteht natürlich immer. Wir versuchen immer wieder Gegensteuer zu geben. Die grossen Player haben mehr Erfahrung. Sie sind gross geworden, weil sie auch Pioniere sind und eine bestimmte Aufgabe in einem bestimmten Moment besonders gut gemacht haben. Das hat dann dazu geführt, dass sie heute grosse Player sind. Sie haben auch die Kapazitäten und Ressourcen, sich mit bestimmten Themen zu beschäftigen. Die KMU haben diese Kapazität nicht. Und genau hier treten wir als GS1 auf den Plan, weil es eine unserer Rollen ist, das Wissen der grossen Player in Form von Berichterstattung und Events, in Form von Seminaren und Lehrgängen einer breiteren Schicht, unter anderem den KMU, zugänglich zu machen. Die KMU müssen diese Informationen jedoch selbst abholen und an unsere Events kommen. Das geschieht heute zu wenig, an den Events sind kleinere Unternehmen selten dabei. Zeitmangel kann längerfristig keine Entschuldigung sein.

Welche Visionen haben Sie bezüglich GS1 im Jahr 2020?
Die Entwicklung von GS1 ist stark davon abhängig, was die Mitglieder sich wünschen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir uns im Bereich Mobile Commerce mit einem eigenen Angebot bewegen könnten. Dabei ist es nicht die Rolle von GS1, Produkte zu beurteilen, es ist auch nicht die Rolle von GS1, Produkte zu vergleichen, aber es könnte die Rolle von GS1 sein, dem Markt ein Set von Standards zur Verfügung zu stellen. EPC ist ferner ein Thema, das wir sicher weiterverfolgen werden, das wird sich über kurz oder lang durchsetzen. Sicher ist, dass sich das Verhalten von Konsumenten und Verbrauchern verändern wird und dass GS1 die Trends erkennen, antizipieren und ihre Mitglieder mit Wissen bedienen wird. Auch die Rolle des Moderators zwischen den Partnern in den Wertschöpfungsketten wird an Bedeutung zunehmen, weil auch die Komplexität der Märkte steigen wird.

Welche Trends erwarten Sie?
Ich denke, dass man von den grossen, voll integrierten Megasystemen langsam wegkommt und sich punktuell zu bewusst eingesetzten Teilsystemen hinbewegt. Denken Sie nur an die ganze Welt der Apps, also an die zunehmende Fragmentierung der Systeme. Dies ist die Zukunft: genau das zu erhalten, was man will. Es geht also auch in der Kommunikation um den Trend zur Individualisierung.

Was ist Ihre Motivation, sich täglich mit Standards auseinanderzusetzen? Was macht Ihnen Freude an Ihrer Arbeit?
Das Lösen kleiner und grosser Probleme ist motivierend. Die Beschäftigung damit, was nachhaltig ist, wie es zum Beispiel weitergeht, wenn die Waren nicht mehr transportiert werden können, weil die Energie fehlt. Deshalb interessieren auch wir uns für dieses Thema. Das Zusammenführen von Puzzlestücken zu einem Ganzen motiviert zusätzlich. Nachhaltigkeit ist per se gegeben, wenn effizient und effektiv gearbeitet wird. Wenn man es schafft, gefüllte Lastwagen über die Strasse zu schicken; wenn man es schafft, Fehler zu vermeiden, weil man informiert ist; wenn man es schafft, die richtige Ware zu liefern, weil man sie richtig identifiziert hat; wenn man es schafft, die Ware zur richtigen Zeit zu liefern. Viele Probleme sind Missverständnisse, weil nicht die gleiche «Sprache» gesprochen wird. GS1 bietet eine gemeinsame, formalisierte Sprache, eine Identifikation und darüber hinaus eine Palette von Dienstleistungen an, die es ermöglichen, die richtigen Sachen richtig zu tun. Das sind alles Elemente, die nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Gesellschaft nützen.

Die Fragen stellte Bernhard Stricker.

 

Zur Person
Nicolas Florin (47) ist in Paris und Scuol aufgewachsen und zur Schule gegangen. Nach erfolgreichem Abschluss der Hotelfachschule in Lausanne sammelte er seine ersten Führungserfahrungen als Hotelier in Zürich. Nicolas Florin absolvierte diverse Weiterbildungen im In- und Ausland, unter anderem an der Höheren Fachschule für Betriebswirtschaft in Bern und an der Stanford Graduate School of Business in Stanford (Kalifornien). Nach einigen Jahren bei Ascom im Controlling übernahm er eine Anstellung in Führungsfunktion bei der Galenica-Gruppe, wo er zuletzt die europaweit tätige Alloga-Gruppe führte. Nach einem einjährigen Abstecher nach Weybridge bei London ist er seit Juli 2006 CEO von GS1 Schweiz. Nicolas Florin ist verheiratet und Vater von drei Kindern (20, 17, 13 Jahre). Seine Hobbys sind von den Engadiner Bergen geprägt: vor allem Skifahren und Wandern. Charakteristisch für ihn ist seine Offenheit gegenüber anderen Kulturen, anderen Menschen und Meinungen.

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