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Chance E-Commerce

Nichts beschäftigt den Online-Versandhandel derzeit so stark wie das Thema Liefergeschwindigkeit: Same Day Delivery, Wunschliefertermin, Abendzustellung, Samstags- oder gar Sonntagszustellung.Der Onlinehandel in der Schweiz boomt und erreicht mit 5,7 Milliarden Franken einen neuen Rekordumsatz. Laut dem European Online Retail Forecast von Forrester wird der E-Commerce-Umsatz bis 2017 für Europa auf 191 Milliarden steigen. Die Branche muss sich für den Wachstumsschub fit machen.

(pk) E-Commerce ist erwachsen und «sexy» geworden. Auch wenn es viele «alte» stationäre Händler immer noch nicht so richtig wahrhaben wollen: Der Online- Versandhandel ist nicht mehr aufzuhalten und wächst seit Jahren mit zweistelligen Prozentwerten im Vergleich zum Vorjahr und wird angesichts solcher Quoten über kurz oder lang 20 Prozent des gesamten Detailhandels ausmachen – heute stehen wir bei etwa 6 Prozent (inklusive Food).

Auf zum Klondike
Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind einschneidend und weitreichend, sowohl für die Kommunikation mit dem Kunden als auch in Bezug auf Logistikdienstleistungen. Denn: Der Onlinehandel bringt dem Detailhandel insgesamt wenig bis kein generisches Wachstum – er nimmt sich einfach der geänderten Einkaufsgewohnheiten des Konsumenten an, schafft vor allem Convenience.
Die Versuchung für viele unternehmerische Personen und stationäre Händler ist gross, auch noch auf den Zug aufzuspringen und am vermeintlichen Online-Goldrush mit einem Shop teilzuhaben. Das Kreuz auf der Landkarte ist schnell gezeichnet und die Schaufel liegt bereit, um den Schatz zu heben: Eine Shopsoftware ist günstig zu erwerben, an jeder Ecke bieten Hoster ihre Dienste feil, Bilder sind schnell hochgeladen, und Texte sind heute schnell verfasst oder kopiert.
Und genau jetzt – nach der Schaufensterdekoration – fängt der richtige E-Commerce erst an. Wie generiere ich Kundenfrequenz? Wie viel kostet mich eine Bestellung bei Google? Welche Kosten muss ich für den Zahlungsweg einkalkulieren? Wie viel Ware wird retourniert oder geht unterwegs verloren. Was mache ich mit einer schlechten Bewertung? Wie gestalte ich Logistikprozesse effizient? Und wie schafft es mein Konkurrent, die Ware zehn Franken günstiger anzubieten als ich?
Spätestens jetzt wird bewusst, wie kompliziert Online-Versandhandel ist – vielleicht die komplexeste Handelsform überhaupt. Viele Prozesse, viele Schnittstellen und Medienbrüche, Kleingutlogistik gemischt mit Stückgut und hohe technische Anforderungen multiplizieren die möglichen Fehlerquellen exponentiell. Jeder Fulfillment- Fehler wird heute dank Social Media und fast uneingeschränkter Web-Transparenz teuer bezahlt.

Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.

Eine Chance und 100 Risiken?
Wo viele Risiken lauern, ergeben sich immer auch viele Chancen. Nicht so im Online-Versandhandel: Der Onlinehändler hat im E-Commerce beim Kunden im Normalfall nur eine Chance, alles richtig zu machen, denn wenn irgendetwas im Prozess falsch oder ineffizient läuft, kennt der Kunde kein Erbarmen. Der Onlinehändler hat im Gegensatz zum stationären Händler fast keine Möglichkeiten, korrigierend einzugreifen – denn alles läuft auf  «Distanz». Hier auf einen professionellen (Logistik-)Dienstleister zurückzugreifen, ist ab gewissen Dimensionen empfehlenswert – der spezialisierte Dienstleister beherrscht im Normalfall die bekannten Risiken aus Erfahrung mit anderen Projekten.

Volumen steigen exponentiell
Die Versandhandelsvolumen werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren zwei- bis dreimal höher sein als heute. Ein enormer Bedarf an speziell auf Onlinehandel ausgerichteter Lagerfläche kommt auf uns zu, der Bedarf an Transport- und Sortierkapazität steigt an, neue respektive weiterentwickelte Kommissionierlogik und -technologie dürfte Einzug halten.
Höhere Volumen stellen auf der kostenintensiven letzten Meile der Verteilung signifikante Multiplikatoren in Bezug auf Rentabilität dar und lassen Postdienstleister träumen. Neue Verteilnetze dürften damit entstehen, aber auch neue Verteillogiken werden Einzug halten. Eine grosse Chance für Logistiker, sich heute mit dedizierten Angeboten für den Onlinehandel aufzustellen.

Zunehmende Fragmentierung des Onlinehandels
Der boomende Onlinehandel wird die KMU-Kultur der Schweiz weiter fördern, wird aber auch zu einer Polarisierung der Handelsszene führen. Es wird wenige Giganten geben. Diesen Giganten stehen unzählige kleinere, hoch spezialisierte Händler gegenüber, welche im ersten Schritt ein Land und in letzter Konsequenz die Welt als Markt betrachten.
KMU-Händler sind ab einer Grössenordnung von etwa 5000 Paketen pro Jahr interessante Kunden für professionelle Logistikdienstleister, denn Logistik im Kleinen funktioniert noch im Keller oder in der Garage. Sobald aber Lager hinzugemietet und Prozesse optimiert werden müssen, kommt der Outsourcing-Gedanke mit ins Spiel. Bereits heute versenden rund 1000 Onlinehändler in der Schweiz mehr als 2500 Pakete pro Jahr – das neue Kundenpotenzial für Logistiker wächst also jetzt schon heran. Höchste Zeit, sich in Stellung zu bringen.

Need for speed
Nichts beschäftigt den Online-Versandhandel derzeit so stark wie das Thema Liefergeschwindigkeit. Same Day Delivery, Wunschliefertermin, Abendzustellung, Samstags- und gar Sonntagszustellung sind Schlagwörter, welche in der Branche derzeit fast jede Diskussion treiben.
Was würde passieren, wenn der Onlinehandel in der Lage wäre, jedes Produkt innerhalb einer Stunde nach Bestelleingang seinem Kunden zu vernünftigen Kosten zuzustellen? Der Konsument würde natürlich noch mehr online bestellen und noch weniger vor Ort im Geschäft einkaufen als heute, das Volumenwachstum würde sich nochmals beschleunigen. Eine Lieferung innerhalb von 24 Stunden respektive für den nächsten Tag ist im klassischen Logistikprozess eine Herausforderung; sie wird aber heute schon von vielen Unternehmen zu ganz vernünftigen Kosten gemeistert. Die erneute Beschleunigung auf Same Day Delivery (SDD) oder eben One Hour bedeutet dann in Konsequenz noch höhere Kosten und noch ausgefeiltere Prozesse. Muss dann eine Paketzustellung wirklich 45 Franken kosten?

Der Onlinehändler hat im E-Commerce beim Kunden im Normalfall nur eine Chance, alles richtig zu machen.

Neue Denkansätze sind gefragt
Denkt man in alten Versandhandels- Mustern, kommt ein schnelles Paket natürlich teuer zu stehen. Zentrale Logistik und zentrale Bereitstellung verursachen bei der schnellstmöglichen Belieferung sehr hohe Transportkosten, da lange und «unstrukturierte» Wege gegangen werden müssen. Es darf unterstellt werden, dass ein Unternehmen, welches Europa als Markt bearbeitet und ab einem einzigen Logistikstandort ausliefert, kaum je in der Lage sein wird, einen SDD-Standard anbieten zu können – oder dann nur zu exorbitanten Kosten.
Diese Unternehmen kommen dann unter Druck, wenn ein Konkurrent es schaffen sollte, dank höherer Volumen und mit dezentralen Strukturen die Liefergeschwindigkeit zu erträglichen Kosten signifikant zu erhöhen. Ein neuer, schwer kopierbarer USP entsteht. Können Logistikunternehmen hier mit alternativen Lösungen wie Paketstationen, Drive-in-Abholstellen, Crossdocking-Logistikzentren, Peer-to-peer-Zustellnetzwerken usw. die Zustellwege mit neuen Ansätzen vereinfachen und neue Werte generieren? Zwangsläufig, wenn die Volumen weiter wie erwartet steigen.

Amazon ist dabei, sich logistisch zu dezentralisieren: Zehn verschiedene Logistikstandorte über Deutschland verteilt schaffen geografische Nähe zu den Konsumenten. Im Bild das Logistikzentrum in Bad Hersfeld.Onlinehandelsvolumen als Geschwindigkeitstreiber
Die Markterschliessung mit zentraler Logistik war in den letzten 20 Jahren wohl das A und O für den Online- Versandhandel, wird aber zunehmend an Bedeutung verlieren. Der entscheidende Auslöser für eine neue logistische Betrachtungsweise ist das stark wachsende Volumen im Onlinehandel. Dümpelte der Versandhandel noch vor 15 Jahren immer um die 3 bis 4 Prozent des gesamten Detailhandelsvolumens, haben wir in den letzten Jahren enorme Zuwachsraten gesehen und sprechen heute schon von 6 Prozent (in der Schweiz) bis 12 Prozent (in Grossbritannien) des gesamten Retailvolumens.
Die Visionäre der Zunft sehen bereits für das Jahr 2020 Versandhandelsanteile von 20 oder gar 30 Prozent am gesamten Detailhandel – in einzelnen Sortimenten wie Heimelektronik ist das heute bereits der Fall! Die steigenden Onlinevolumen ermöglichen es, dezentrale Strukturen zu betreiben und am gleichen Tag oder noch schneller kostengünstig zu liefern. Für Europa ist derzeit Grossbritannien der Vorzeigemarkt, welcher zeigt, wie das Thema Lieferzeit auf einmal zum zentralen Faktor werden kann, wenn die Volumen explodieren.
In Deutschland ist Amazon dabei, sich logistisch zu dezentralisieren: zehn verschiedene Logistikstandorte über Deutschland verteilt schaffen geografische Nähe zu den Konsumenten. Volumenwachstum war hier der Treiber der Dezentralisierung, höhere Liefergeschwindigkeit zu gleichbleibenden Kosten wird die Folge sein – ein Schulbuchbeispiel.

Handeln – jetzt
Das Sprichwort «Handel ist Wandel» hat noch selten eine solche Bedeutung gehabt wie in diesen Jahren. Der Handel hat gerade eine neue Richtung eingeschlagen, was von allen Stakeholdern viel abverlangen wird. «Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit» dürfte als geflügeltes Wort ebenso zusätzliches Gewicht bekommen – für Händler wie für Logistiker.

Patrick Kessler
Präsident VSV, Verband des Schweizerischen Versandhandels

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