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Tante Emma ist tot, es lebe Tante Emma…

Ladengeschäfte müssen sich etwas einfallen lassen, um gegen die Konkurrenz aus dem World Wide Web bestehen zu können. Auch der Lebensmitteleinzelhandel ist unter Druck, doch eine Studie zeigt: Online wird bei Nahrungsmitteln nicht zum Standard, und Tante Emma könnte wieder an Bedeutung gewinnen.

Die Studie «Die Zukunft des Einkaufens – Perspektiven für den Lebensmitteleinzelhandel in Deutschland und der Schweiz» untersuchte zunächst die wichtigsten Treiber für die Entwicklung des Lebensmitteleinzelhandels. Neben dem steigenden Alter der europäischen Bevölkerung geht sie von einer sinkenden individuellen Mobilität infolge höherer Treibstoffpreise aus. Ausserdem nehmen die Studienautoren an, dass immer weniger Menschen einen regelmässigen und strukturierten Tagesablauf haben.

Fast Food und Convenience werden immer beliebter.

Alle drei Faktoren könnten dafür sorgen, dass der Lebensmittelhändler um die Ecke wieder an Bedeutung gewinnt. Alten und wenig mobilen Menschen bietet er Nahversorgung und eine Art «sozialen Treffpunkt in der Nachbarschaft», Berufstätige können in Nähe des Wohn- oder Arbeitsortes rasch die benötigten Nahrungsmittel für einen Tag besorgen. Gerade bei Personen mit unregelmässigen Arbeitszeiten werden Fastfood und Convenience immer beliebter. Formate wie Coop Pronto und Migrolino bieten die gefragten flexiblen Öffnungszeiten und werden sich deshalb einer weiter steigenden Beliebtheit erfreuen.


Stationärer Handel bietet Flexibilität
Auch wenn Tablets und Smartphones unseren Lebensstil beeinflussen, wird ihr Einfluss auf den Lebensmitteleinzelhandel als gering eingeschätzt. Dank Apps und mobilem Internet sind sämtliche Informationen und Preise jederzeit abrufbar. Der Lebensmitteleinzelhandel dürfte davon weniger betroffen sein, da das Sparpotenzial geringer ist als beispielsweise bei elektronischen Geräten. Ausserdem spielen beim Kauf von Obst und Gemüse Geruch und Aussehen eine wichtige Rolle.
Ausgehend von der Analyse der Triebkräfte des Wandels werden in der Studie zehn Thesen zur Zukunft des Lebensmitteleinzelhandels formuliert.

Die Mobilität wird abnehmen.

Die erste These bringt es kurz und knapp auf den Punkt: «Online wird im Lebensmitteleinzelhandel nicht Standard. » Dafür sprechen vor allem zwei Punkte. Zunächst ist die Hemmschwelle für den Kauf von Food-Artikeln im Internet noch relativ hoch, da Aussehen und Geruch beim Kaufentscheid eine wichtige Rolle spielen. Hinzu kommt, dass der Onlinehandel mit der Flexibilität von Supermärkten noch nicht mithalten kann: Auch wenn die Lieferzeiten kürzer geworden sind, erfordert die Versorgung durch Onlineshops mehr Vorlaufzeit als der Gang in den nächsten Laden. Die Experten gehen jedoch davon aus, dass Wahl und Ort der Mahlzeit zunehmend spontan ausfallen werden und die individuelle Mobilität abnehmen wird.
Durch den Onlinehandel gefährdet scheinen dafür die Hypermärkte. Diese grossen Supermärkte zeichnen sich durch einen hohen Anteil an Nonfood- Artikeln aus, die immer mehr über das Internet gekauft werden. Die sinkende Mobilität sowie das steigende Konsumentenbedürfnis nach Flexibilität beim Einkauf lassen die Studienautoren davon ausgehen, dass die Hypermärkte mit ihrer dezentralen Lage auf der «grünen Wiese» gegenüber den Supermärkten in der Nähe an Attraktivität verlieren werden.

Mischnutzung als Chance
Arbeitszeiten, die die Essenszeiten beeinflussen, lassen nicht nur die Nachfrage nach gut erreichbaren Supermärkten steigen, sondern auch nach direkt konsumierbaren Lebensmitteln. Da für Nonfood-Artikel die Konkurrenz aus dem Netz am grössten ist, konzentrieren sich Supermärkte verstärkt auf Food-Artikel. Somit werden Nonfood- Flächen frei. Diese können auch für Gastronomie genutzt werden. So entstehen Verbindungen zwischen Sortiment und Gastronomie, etwa indem Pastafabrikanten im Supermarkt frische Pasta herstellen, die der Konsument gleich an edlen italienischen Stehtischen verkosten kann.
Die Nutzung der frei gewordenen (Nonfood-)Flächen lässt sich in Zukunft weiter ausbauen. Mischformate und Hybridformen sind allerdings nichts Neues: Schlüsseldienste oder Apotheken in Supermärkten sind nur zwei Beispiele. In Zukunft wären Modelle, bei denen die Flächen je nach Tageszeit unterschiedlich genutzt werden, denkbar. So könnten morgens vor allem vorgefertigte Mahlzeiten und Getränke angeboten werden.

Emotionen statt Effizienz
Lebensmittel sind «Mittel zum Leben». Viele Konsumenten haben zu ihnen deshalb eine emotionale Bindung. Supermärkte sind heute weniger auf die Stärkung dieser Bindung ausgerichtet; stattdessen sind die Läden so gestaltet, dass der Einkauf möglichst schnell vonstatten geht. Für Emotionen ist kein Platz und keine Zeit. Nach Ansicht der Studienautoren liegt aber hier die Chance für die Lebensmitteleinzelhändler, denn im Gegensatz zum Onlinehandel können sie dem Kunden einen «echten Einkauf» im «echten Laden » mit «echten Menschen» bieten. Und sie können das, was vor dem Bildschirm verloren geht: mit dem Kunden in Dialog treten. Dafür müssen die Geschäfte wieder mehr zum Verweilen einladen. Möglich wäre das mit neuen Formen der Ladennutzung wie Modeschauen, Tanzeinlagen, Kochshows, Kaffee- oder Tee-Zeremonien.

Gesunde Ernährung gewinnt an Bedeutung
Diverse Lebensmittelskandale haben das Vertrauen der Konsumenten erschüttert, der Wunsch nach «sicheren» Lebensmitteln steigt. Die Studie rechnet deshalb Nischenlösungen, bei denen Lebensmitteleinzelhändler auf eine verstärkte Integration von Metzgern, Bäckern oder weiteren Experten setzen, gute Chancen aus. Auch Kooperationen mit regionalen Produzenten, zum Beispiel in Form eines Bio- Lieferdienstes, sind denkbar. Nicht nur der Wunsch nach «sicheren» biologisch angebauten Lebensmitteln vom Bauern aus der Region nimmt zu. Auch Gesundheit und gesunde Ernährung stossen in der alternden Gesellschaft immer mehr auf Interesse. Der Lebensmitteleinzelhandel kann hier ansetzen: Produktauswahl, Warenpräsentation und Herkunftsgarantie. Allerdings wird es nicht ausreichen, nur gesunde Produkte anzubieten. Vielmehr müsste der Lebensmitteleinzelhändler gezielt zum Wohlbefinden der Kunden beitragen, wie zum Beispiel durch die Analyse von Warenkörben und ihrem Einfluss auf die Gesundheit.

 

Leben Totgesagte länger?
Welche Ladenformate werden also im Lebensmitteleinzelhandel in Zukunft bestehen? Die Studienautoren entwickeln anhand der Faktoren Logistikkosten und Emotionalität respektive Funktionalität vier Szenarien: «All Mart» (niedrige Logistikkosten, Emotionalität), «Small Mart» (hohe Logistikkosten, Emotionalität), «Call Mart» (hohe Logistikkosten, Funktionalität), «Smart Mart» (hohe Logistikkosten, Funktionalität). Dem «Call Mart» wird die geringste Eintrittswahrscheinlichkeit zugestanden. In diesem Szenario wird der Onlinehandel eine ernsthafte Konkurrenz für den stationären Handel, die Kernkompetenzen des Lebensmitteleinzelhändlers werden von der Ladenfläche losgelöst. Konsumenten profitieren von ausgeweiteten und tiefen Sortimenten und effizienten Warenverteilungslösungen. Die Technologie ermöglicht es den Kunden, ihre Versorgung jederzeit und überall zu organisieren.
Das wahrscheinlichste Szenario ist gemäss Studie der «Small Mart». Abnehmende individuelle Mobilität, Wertschätzung für soziale Kontakte und Kundennähe sowie Regionalität sorgen dafür, dass der Kunde «Tante- Emma-Formate» in der Nachbarschaft wieder mehr schätzen wird. Ausserdem ermöglicht der «Small Mart» einen spontanen Einkauf, während die Lieferdienste im Onlinehandel nicht mit dem flexiblen Lebensstil der Kunden mithalten können.
Inwiefern Tante Emma tatsächlich eine Renaissance erleben wird, hängt sicherlich auch davon ab, ob sich flexible Lieferformate wie Same-Day-Delivery durchsetzen werden. Ob die Tante Emma des 21. Jahrhunderts ihre Kundinnen und Kunden an der Theke beraten wird oder ob sie das via Facebook macht, ist allerdings wieder eine andere Frage.

Katharina Birk

Die Studie kann hier heruntergeladen werden.

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